Stralsund: Mit Strickschal in das Jahr der Maske gestartet

Beim Blättern im Kalender des Corona-Jahres 2020 bleibt mein Blick am 27. April hängen. Da steht: ab Montag nur noch mit Maske in den Bus oder zum Einkauf. Ein unscheinbarer Eintrag, dessen Auswirkungen den Alltag in Deutschland bis heute verändern sollten und ihn noch bis weit in das nächste Jahr prägen werden. Wo die Maske zum Alltag gehört: Anfangs war ich skeptisch. Nicht dass ich den Zweck infrage gestellt hätte. Millionen Chinesen konnten sich nicht irren. Trugen sie doch die Mund-Nasen-Bedeckung nicht erst, seitdem in Wuhan das Sars-CoV-2-Virus ausgebrochen war, sondern längst, um sich in Großstädten vor dem Smog zu schützen. Selbstgestricktes gegen das Virus: Meine Zweifel rührten eher daher, dass die politischen Entscheider mangels vorhandener Masken selbst gestrickte Schals und Tücher als geeignet ansahen, eine Pandemie einzudämmen, die immer weiter um sich griff. Im Ernstfall war die Verfügbarkeit medizinisch wirksamer Masken in der Arbeitsteilung einer globalisierten Welt an ihre Grenzen gestoßen. Solidarität an der Nähmaschine: Doch deutsche Hobbybastler und -näherinnen schufen zu Hause zunächst, was Industrie und Handel nicht bieten konnten – Alltagsmasken. Damit war nicht nur ein neuer Begriff geboren. Die Mach-es-selbst-Bewegung sorgte zudem für ein bunteres Nebeneinander beim Einkauf und für etwas, das selten geworden war im Land: Solidarität. So wie etwa Volkmar Schattschneider und seine Frau Renate aus Dargun, die in Heimarbeit nicht nur für ihren Freund Torsten Grundke, den Chef des Stralsunder Media-Markt, eine Maske mit Firmenlogo nähten, sondern gleich alle 54 Mitarbeiter des Markt-Teams damit versorgten. Die französische Marianne hätte gestaunt: Dann gab und gibt es da noch den Gegensatz dazu. Jene, die sich durch ein Stück Stoff vorm Mund samt den damit verfügten Härten der Corona-Regeln ihrer Rechte beraubt sehen und mit der abgesetzten Maske wie mit der Freiheitsfahne wedeln. Da hätte Marianne, Symbolfigur der französischen Revolution, aber gestaunt, was sich alles mit dem Freiheitsbegriff verknüpfen lässt. Die eigene Befindlichkeit über die (gesundheitliche) Zukunft der Mitmenschen zu stellen, eher nicht. Der Strickschal hat ausgedient: Heute steht wieder ein Termin im Kalender: FFP2-Masken aus der Apotheke holen. Ich stehe auf der Warteliste für die nächste Lieferung. Klar, ich werde die Dinger tragen. Bieten sie doch mehr Sicherheit als liebevoll genähte Alltagsmasken – für mich und die Menschen meiner Umgebung. Die Schlangen vor den Apotheken haben gezeigt: Der Mund-Nasen-Schutz ist den Menschen wichtig. Die Zeit des Strickschals ist vorbei. Der Streit über den Sinn der Maske hoffentlich bald. Von Jörg Mattern