Stralsund: Wie ein neuer Verein die Stadt vielfältiger machen will

Sieben Freunde wollen das Leben in Vorpommern toleranter und bunter machen. Dafür haben sie im September 2020 den Verein „Bunter Anker“ gegründet. „So eine Gründung während der Pandemie ist nicht leicht“, sagt Nicole Kohls (24), die die Aufgabe der Pressereferentin übernommen hat. Der Eintrag ins Vereinsregister steht jedoch noch aus. Viele der Absprachen würden derzeit über Videokonferenzen laufen. Doch mit der Telefontechnik kennen sie sich aus. Die meisten von ihnen arbeiten in einem Stralsunder Callcenter. „Ursprünglich wollten wir die legendären Regenbogenpartys wieder aufleben zulassen“, sagt Kohls, die aus Franzburg stammt und jetzt in Stralsund lebt. Doch daraus wurde schnell mehr. Jetzt wollen sie unter anderem den Christopher Street Day nach Stralsund holen und eine neue Anlaufstelle für queere Menschen in der Hansestadt schaffen. Denn genau so eine fehlt aus ihrer Sicht nicht nur in Stralsund, sondern im ganzen Kreis. „Natürlich gibt es den Chamäleon V. Aber der steht eher für Sexualberatung. Wir aber möchten Menschen helfen, sich selbst zu helfen“, sagt Kohls. „Ria“ schaffte Coming-Out erst in Stralsund: „Wir sind eine bunte Farbpalette“, sagt Maria Gottschalk (27), die den Part der Schriftführerin übernommen hat. „Akzeptanz, Vielfalt und Respekt sind unsere Ankermerkmale. Wir wollen den Menschen zeigen, dass es ok ist, schwul, lesbisch, trans oder queer zu sein.“ Was offenbar alle Vereinsmitglieder verbindet: Die Erinnerung an die legendären Regenbogenpartys in der Alten Eisengießerei. „Ich war auf der letzten Regenbogenparty mit meiner Frau“, sagt Gottschalk. Ursprünglich kommt „Ria“ aus Wolgast, 2009 zog sie nach Stralsund, weil die Hansestadt für Weltoffenheit steht. „Ich bin lesbisch, habe mich mit 19 Jahren geoutet“, sagt sie. Dies hätte sie erst in Stralsund geschafft. „Seitdem ich hier lebe, habe ich viel mehr Selbstwertgefühl. In Wolgast fühlte ich mich allein.“ Von der Familie sei das Coming-out gut aufgenommen worden. „Auch bei meinen Brüdern“, sagt Ria. Fast 10 Prozent der LSBTI*-Community in MV lebt ungeoutet: So ein Coming-out gelingt nicht jedem. Partys, Themenwochen und die neue Anlaufstelle zielen dabei auf ein besseres Coming-out-Klima in der Region ab. Denn noch immer fällt es Menschen aus der LSBTI*-Community schwer, über die eigene Sexualität offen zu sprechen. Laut einer landesweiten Untersuchung zur Lebenssituation von schwulen, lesbischen und queeren Menschen in MV, die das Ministerium für Soziales und Integration im April 2020 veröffentlichte, ist der Coming-out-Prozess für 7,5 Prozent der Befragten noch immer eine zu große Hürde. Diese Menschen leben lieber ungeoutet – oft aus Angst vor Diskriminierung am Arbeitsplatz, Nachteilen an der Uni oder negativen Reaktionen in der Familie. Dabei ist etlichen Betroffenen schon vor der Pubertät klar, welches Geschlecht sie wirklich begehren. Laut Befragung dauert es von der Bewusstwerdung (inneres Coming-out) bis zur öffentlichen Aussprache (äußeres Coming-out) in MV durchschnittlich jedoch rund 11 Jahre. Für Betroffenen eine lange, problematische Phase. „Ich habe mich mit 16 Jahren geoutet“, sagt Kohls. „Meine Bisexualität ist für meine Eltern kein Problem.“ Der Verein „Bunter Anker“ will die queere Lebensweise für Stralsund, Rügen und Vorpommern vertreten und zu einem Sprachrohr für Toleranz, Vielfalt und Akzeptanz geschlechtsübergreifender Lebensvielfalten werden. Angedacht sind Veranstaltungen aber auch Präventions- und Beratungsangebote. Der Verein will auch über Zusammenkünfte wie Themenabend und Partys die queere Lebensweise der LSBTIQ*-Community in der Öffentlichkeit sichtbarer machen. Die Bedeutung der Buchstabden steht dabei für lesbisch (L), schwul (S), bisexuell (B), transsexuell (T), intersexuell (I) und queer (Q; wortwörtlich: komisch) und */+ steht für pan/omnisexuell und weitere Varianten. Die Beratungsmöglichkeiten können über das Internet schon genutzt werden. Der Verein kann per Email info@bunter-anker.de, Facebook „Bunter Anker“ oder Instagram „bunter_anker“ kontaktiert werden. Weitere Infos auf der Website unter www.bunter-anker.de Auf der Suche nach einem Büro für queere Menschen: „Vor der letzten Regenbogenparty hatte ich mich frisch geoutet“, sagt „Ria“. „Dort hatte ich keine Angst, wegen meiner Sexualität doof angemacht zu werden.“ Dem stimmt Nicole Kohls zu. „Dort konnte man als Frau tanzen gehen, ohne gleich begrabscht zu werden.“ Organisieren könnte die neuen Partys Roberto Palleit. Er sieht sich selbst als Eventmanager innerhalb des Vereins. Er hatte sein Coming-out mit 18 Jahren. Heute ist „Robby“ 31 Jahre alt und lebt mit seinem Mann in Franzburg. „Ich bin gay und liebe meinen Mann“, sagt Roberto und lacht. Er hat Anfang 2020 den Namen von seinem Ehemann angenommen. Bis zum 20.2.2020 hieß er noch Kropp. Doch an diesem schönen Datum gaben sie sich das Ja-Wort, so wie sieben weitere Paare in Stralsund auch. Auch Ehemann Martin Palleit engagiert sich im Verein. Obwohl beide in Franzburg leben, sind sie gern in der Hansestadt. „Stralsund ist sehr offen“, sagt er. Trotzdem müsse man behutsam vorgehen. „Themenwochenenden, Stadtführungen, Theaterstücke. Alles braucht seine Zeit.“ Doch zuerst bräuchte man das „Büro für queere Menschen“. „Wir suchen derzeit intensiv nach Räumlichkeiten. Über jede Hilfe würden wir uns sehr freuen“, sagt er. Lesen Sie auch: Stralsund: Was man bei Angst und Depression in der Pandemie tun kann Richtenberg: Darum braucht die kleinste Stadt im Land einen neuen Bürgermeister Verein sucht Raum für „queeres Büro“: So eine Anlaufstelle könnte offenbar auch die Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation in MV steigern. Laut Studie wird innerhalb der LSBTIQ*-Community häufiger die mangelhafte Beratungslandschaft für Trans- und Intersexuelle als Grund für Unzufriedenheit angeführt. Dabei ist die allgemeine Zufriedenheit hoch. 49 Prozent sind zufrieden mit ihrem Leben in MV, 14 Prozent sogar sehr zufrieden. Auch Stefanie Kupfer (23) lebt gern in Vorpommern. Die gebürtige Rüganerin kehrte nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit zurück und kümmert sich innerhalb des Vereins nun auch um die sozialen Belange. Kupfer hat sich mit 21 Jahren geoutet. „Erst als Bi“, sagt sie. „Aus meiner heutigen Sicht stimmt das aber nicht. Ich habe mich erst danach mit dem binären Geschlechtersystem auseinandergesetzt und dabei festgesellt, dass es für mich nicht cool ist.“ Heißt: Die einfache Teilung der Welt in Mann und Frau entspricht nicht der Denke von Kupfer. „Ich bin pansexuell“, sagt sie. „Ich bin nicht auf eine Geschlechtsidentität festgelegt.“ Wenn sie sich als pansexueller Mensch verliebt, dann nicht in Frauen, Männer oder Transsexuelle, sondern ganz einfach in einen Menschen. Populär wurde der Begriff, als sich die prominente US-Sängerin Miley Cyrus 2016 als „pansexuell“ outete. „Es geht eben nicht mehr nur um Schwule und Lesben“, sagt Kupfer. „Sondern auch um Pansexualität, Transidentität und Nicht-Binär-Sein“. Von Kay Steinke