Stralsund: Wo 75 Jahre nach Kriegsende noch Munition gesucht wird

„Munitionsortungs- und Bergungsarbeiten“ steht auf einem Schild der Gesellschaft für Kampfmittelbeseitigung mbH aus Pinnow an der Feldstraße. Wer lässt hier nach alter Munition suchen und warum? Beim Straßenbauamt Stralsund kann Amtsleiter Ralf Sendrowski dazu Auskunft geben. „Wir haben das Grundstück zwischen der Feldstraße und dem Rügenzubringer gekauft, weil wir an dieser Stelle die neue Straßenmeisterei Stralsund errichten wollen.“ Die Meisterei soll zuständig sein für die Bundesstraße 96 von der A20 bis nach Bergen. Jedoch gehört das dafür vorgesehene Gelände an der Feldstraße zu den Kampfmittelverdachtsflächen der Hansestadt. Es besteht Erkundungsbedarf: Bei Robert Mollitor, Leiter des Munitionsbergungsdienstes MV (MBD MV), gibt es weitere Antworten. „Die Fläche ist im Kampfmittelkataster des MBD unter der Katasternummer 412 und der Bezeichnung „Stralsund – Bahnhof“ als kampfmittelbelastet erfasst, sie ist in die Kategorie 3 eingestuft“, sagt Mollitor. Die Kategorie 3 des Katasters bedeuten, dass für diese Fläche eine Kampfmittelbelastung dokumentiert worden ist und das vor Bauarbeiten Erkundungs- , gegebenenfalls Handlungsbedarf besteht. Luftbilder aus dem Weltkrieg ausgewertet: Diesen leitet der Munitionsbergungsdienst in diesem Fall aus der Auswertung von Luftbildern ab „Ein Großteil des Untersuchungsgebietes ist im Weltkrieg durch die US Airforce bombardiert worden. Es wurden alle zur Verfügung stehenden Kriegsluftbilder der Jahrgänge 1941, 1943 -1945 gesichtet und ausgewertet“, sagt Mollitor. Der staatliche Munitionsbergungsdienst Mecklenburg-Vorpommern (MBD MV) ist mit den Fachbereichen Gefahrenerkundung und -bewertung/Luftbildauswertung für das Führen des Kampfmittelkatasters zuständig, in dem alle Erkenntnisse zu Kampfmittelbelastungen erfasst und dokumentiert werden. Mit insgesamt vier Außenstellen stellt der MBD MV die schnelle Reaktion bei ungeplanten Munitionsfunden, sogenannten Soforteinsätzen, und darüber hinaus für planbare Arbeiten die Überwachung und Kontrolle beauftragter Fachfirmen sicher. Übernommen wird auch die Bekämpfung von unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen sowie sogenannten Paketbomben. Mehrere tausend Hektar sind in den vergangenen Jahrzehnten in MV von Munition geräumt worden, dennoch sind rund 800 Flächen mit ca. 90.000 Hektar Flächengröße als im Kampfmittelkataster des Landes als belastet erfasst. Dazu kommen noch 880 000 Hektar in einstigen Schießgebieten innerhalb der 12 Seemeilenzone vor den Küsten Mecklenburg-Vorpommerns. Eingeteilt sind die Verdachtsflächen in fünf Kategorien – von 1. „Kampfmittelverdacht hat sich nicht bestätigt“ über 3. „Die festgestellte Kampfmittelbelastung stellt gegenwärtig Zeitpunkt keine Gefährdung dar.“ Sie ist für späteren Handlungsbedarf zu dokumentieren.“ Bis 5. „Die Kampfmittelbelastung wurde vollständig geräumt.“ 2019 wurden in MV insgesamt 132,066 Tonnen Kampfmittel geborgen. Hierunter waren 56 Bomben ab 50 Kilogramm Gewicht. Der Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre liegt bei jährlich 86,194 Tonnen. In diesem Zeitraum schwankt das Aufkommen in Abhängigkeit von Auftragslage und Belastungsgrad der zu beräumenden Flächen zwischen 39,4 und 152,1 Tonnen. Luftbilder – sowohl von alliierten Luftstreitkräften, aber auch späteren Überfliegungen, etwa Vermessungsluftaufnahmen – stellen ein wesentliches Hilfsmittel zur Dokumentation möglicher Kampfmittelbelastungen dar. Moderne Luftbildverfahren setzen zudem auf Lasertechnik, die durch das Blätterdach von Bäumen noch alte Bombentrichter erkennen kann. Mittels geophysikalischer Suchgeräte wie aktive Metalldetektoren mit hochfrequenten elektromagnetischen Feldern bzw. passiver Fluxgatemagnetometer werden verdächtige Flächen auf Munition untersucht. Neben den bekannten tragbaren Detektoren kommen auch solche mittels schwerer Bohrtechnik zum Einsatz, etwa wenn die Metalbelastung des Bodens eine tiefere Erkundung notwendig macht. Die Bohrer werden dann stufenweise abgesenkt und die Bohrlöcher auf jeder Stufe mit Sonden untersucht. Die Untersuchung der Verdachtsfläche wurde in zwei Abschnitte eingeteilt. Von Mai bis Juli wurden hier bereits etwa 9000 Quadratmeter durch Oberflächen- und Bohrlochsondierung auf Kampfmittel untersucht, aber keine Kampfmittel gefunden. Derzeit läuft die Untersuchung der restlichen Fläche von rund 11 000 Quadratmeter durch die Firma GfKB. Gefunden wurde auch hier bislang nichts. Alte Kasernen und Stellungssysteme sind verdächtig: Im Bereich der Hansestadt Stralsund weist das Kampfmittelkataster des Landes derzeit insgesamt 13 solcher Kampfmittelbelastungsflächen aus. Dazu zählen unter anderem alte Stellungs- oder Grabensysteme aus dem Krieg am Stadtrand wie etwa an der Prohner Chaussee oder am Rande von Knieper West, aber auch ehemalige Kasernengelände wie etwa der Dänholm, der seit 1849 von der preußischen Marine, später von der Volksmarine der DDR militärisch genutzt wurde. Nach Bombardement 1944: Stadtteile noch unter Verdacht: Die größte Ausdehnung im Stadtgebiet haben aber vor allem jene Verdachtsflächen über denen im Oktober 1944 amerikanische Bomber ihre Last abgeworfen und große Teile der Hansestadt zerstört haben. Dazu gehören nach einer Übersichtskarte des MBD MV große Teile der Frankenvorstadt, wo bei dem Angriff unter anderem das damalige Elektrizitätswerk schwer getroffen wurde. Ebenso Teile der Altstadt, wo die amerikanischen Bomben zwischen dem Stadthafen und dem Quartier 17 zwischen Rathaus und Heilgeiststraße große Schäden anrichteten. 50-Kilo-Bombe 2010 am Quartier 17 gefunden: Als das völlig zerstörte Quartier, das zu DDR-Zeiten als Rathausplatz bekannt war, wiederhergestellt werden sollte, wurden 2010 bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Gelände an der Kleinschmiedstraße Überreste eines amerikanischen Kampfflugzeuges samt einer 50-Kilo-Bombe gefunden, die von einer Spezialfirma entschärft und beräumt werden mussten. Unter Wasser wird ebenfalls gesucht: Zu den Verdachtsflächen zählt auch ein Teil des Strelasunds zwischen Altefähr und Stralsunder Stadthafen. Hier wurde im Zusammenhang mit der Sanierung der Ostmole Ende 2018 einer der letzten aufwendigen Untersuchungen einer Kampfmittelverdachtsfläche in der Hansestadt abgeschlossen. Die aufwendigen Sondierungen unter Wasser durch geschulte Taucher kosteten die Stadt noch einmal 2,5 Millionen Euro extra. Gefunden wurde eine Weltkriegsgranate. Die Schrecken des letzten Weltkrieges sind auch 75 Jahre nach dessen Ende immer noch gefährlich und ihre Beräumung ist teuer. „Das Land selbst plant für Kampfmittelbeseitigungsmaßnahmen jährlich 1,5 Millionen Euro ein, die für Gefahrenabwehrmaßnahmen, wie etwa der Beräumung hochgradig belasteter Waldflächen, Untersuchung von Blindgängerverdachtspunkten sowie der Entsorgung von Kampfmitteln verwendet werden“, sagt Robert Mollitor. Private Bauherren müssen ebenfalls mit Kosten rechnen: Mit Kosten für die Untersuchung von Verdachtsflächen anfallen, müssen auch Privatleute rechnen, die in solchen Gebieten etwa ein Häuschen bauen wollen. Die Höhe der finanziellen Aufwendungen richtet sich dabei nach der vorsorglich abzusuchenden Fläche. Diese dürften sich aber laut Mollitor für ein Einfamilienhaus im Durchschnitt bei etwa 3000 Euro bewegen. Die gute Nachricht dabei ist: „Die Kosten nach dem Fund eines Kampfmittels übernimmt als Gefahrenabwehrmaßnahme üblicherweise das Land.“ Lesen Sie auch: Schloss Parow: letzter Blick in das adlige Erbe vor der Sanierung Bitter: Stralsund sagt den Weihnachtsmarkt in diesem Jahr ab Andauernde Ausnahme: In Vorpommern-Rügen hat der Stab das Sagen Von Jörg Mattern