Stralsunder Arzt über Vorsätze: Klischees und Wege zur Zufriedenheit

Weniger Bier, weniger Zigaretten, Verzicht auf Fleisch, mehr Sport und klimafreundlicher Leben. Die Liste guter Vorsätze ist am Anfang eines neuen Jahres bei vielen Menschen lang. „Oft sogar zu lang“, sagt Prof. Michael Lucht aus Stralsund. Leserumfrage: Was haben Sie sich für das neue Jahr vorgenommen? Der 54-Jährige sollte es wissen. Als Leitender Oberarzt der Psychiatrie und Psychotherapie am Krankenhaus West des Helios Hanseklinikums hilft er seit Jahrzehnten Menschen mit den unterschiedlichsten Lastern – und ist auf dem Gebiet der Suchtmedizin mittlerweile eine echte Koryphäe. Im Interview spricht er über den Wunsch abzunehmen, die Wirkung von Willenskraft und darüber, wie man seine Vorsätze für 2021 vielleicht doch durchhält. Sie sind Suchtmediziner. Womit haben Sie täglich zu tun? Bei uns in Stralsund geht es hauptsächlich um die Behandlung von Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. Es kommen aber auch andere Patienten zu uns, die es mit Substanzen wie Opium, Cannabis, Amphetamin oder auch Schmerzmitteln zu tun haben. Alles Menschen wie Sie und ich – Elektriker, Väter, Segler – aber sie leiden an einer Suchtstörung. Für solche Patienten gibt es dennoch Hoffnung. Durch eine Behandlung kann Besserung erreicht werden, so dass die Erkrankung ihr Leben nicht mehr beeinträchtigt. Natürlich gibt es auch beim Alkohol schwere Verläufe, Menschen können daran sterben. Das gilt auch für die Nikotinabhängigkeit. Für Raucher gibt es aber kaum Angebote in der psychiatrischen Klinik. Sie sterben dann möglicherweise an den Spätfolgen wie Krebs. Jede Sucht ist individuell. Es gibt Menschen, die kommen ganz gut mit Cannabis klar, andere werden davon sehr schnell sehr krank. Besser ist es, man lässt einfach die Finger davon. Kommen wir zum Thema Veränderungen. Haben Sie gute Vorsätze für 2021? Vorsätze eher weniger. Natürlich habe ich große Träume. Wie fast jeder möchte ich mehr Sport machen. Sport und Abnehmen sind ein Riesenthema in unserer westlichen Kultur. Die Medien sind voll davon. Glaubt man den ganzen Magazinen im Bahnhof, müssten wir alle bald schlank sein. Die Wahrheit ist jedoch: Wir werden immer dicker. Deshalb kann es auch ein gutes Ziel sein, nicht Zuzunehmen. Für 2021 habe ich mir jedoch etwas anderes vorgenommen: mehr Ruhe im Alltag. Es ist kein Ziel, sondern mehr ein Leitmotiv. Wenn sich Leute verändern wollen, empfehle ich auch diese Herangehensweise. Ein Leitmotiv macht schneller zufrieden als ein fernes Ziel. Schauen Sie sich im Buchladen ruhig alle Bücher an. Welches passt zu Ihnen? Probieren Sie es aus! Man muss viel experimentieren, bis man den richtigen Weg für sich gefunden hat. Ziele sind dennoch ok? Ja. Man sollte dennoch seine Ansprüche überdenken. Oft sind die Ziele zu hoch und passen nicht zur Lebenssituation. Für Veränderung braucht man Zeit und Muße. Dieser Aspekt wird schnell unterschätzt. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie haben einen Bombenjob, sind immer ansprechbar, betreiben ein aufwendiges Hobby und sind auch noch der perfekte Ehepartner. Dann fehlt für mehr Sport vermutlich die Zeit. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir auf etwas verzichten. Will ich mehr Sport machen, sollte ich mich vom Hobby, vielleicht dem Musizieren, verabschieden. Oder man verzichtet auf Perfektion im Job. Aber das ist richtig schwer! Ich verzichte also auf Musik und nehme mir eine Sache vor. Was kann ich tun, damit ich mein Vorhaben durchhalte? Will ich meinen Vorsatz durchhalten, brauche ich Willenskraft. Seinen Willen schult man am besten über Regelmäßigkeit. Routinen müssen aufgebaut werden. Habe ich lange keinen Sport mehr gemacht, sollte ich nicht mit einem Marathon anfangen. Es reicht, wenn ich drei mal die Woche fünf Kilometer spazieren gehe, am besten mit jemand anderem. Wenn ich das mache, freue ich mich jedes Mal, wenn ich nach Hause komme – und nicht erst in drei Monaten. Ich belohne mich also regelmäßig. Ja. Jede Veränderung braucht einen Wert. Zusätzlich sollte man schauen, dass so eine Veränderung nicht zu lange dauert. Richten Sie den Blick auf sich selbst, was erachten Sie als wertvoll. Will man abnehmen, können für den einen zwei Kilo schon sehr gut sein, für den anderen nicht. Schlanker werden ist in jedem Fall nicht leicht. Für Menschen, die über 50 Jahre alt sind, ist es schon ein Riesenerfolg, wenn sie nicht zunehmen. Wirklich dünner werden ist eine anspruchsvolle Veränderung. Die Rolle des Sportes für das Gewicht wird oft überschätzt. Ansonsten wird durch Sport alles besser: Stimmung, Schlaf, man hat weniger Angst, weniger Unruhe – und lebt länger. Für’s Abnehmen sind Schlaf und Ruhe wichtig – und Bewegung schadet sicher nicht. Was kann mir bei meinem Vorhaben noch helfen? Gut ist es, wenn Sie nicht allein sind. Vielleicht hat ihr Partner oder ein Bekannter den gleichen Wunsch. Tun Sie sich zusammen. So hat man jemanden, der mitmacht und kann sich nicht nur über die eigenen Erfolge, sondern auch über die des anderen freuen. Was halten Sie von mehreren Vorsätzen? Plötzlich weder Alkohol noch Zigaretten, dazu gesundes Essen und die Vorbereitungen für einen Marathon? Damit sind die meisten Menschen überfordert. Durch Überforderung kann man müde, angespannt oder auch traurig werden. Wir wollen jedoch Zufriedenheit erreichen, jeder weiß selbst am besten, wie er dazu kommt. Dafür muss man in sich hineinhorchen – und fängt vielleicht mit einer Sache an. Was halten Sie vom Verzicht auf Fleisch? Das muss jeder für sich beantworten. Es gibt durchaus Menschen, die für ihr Wohlbefinden Wurst und Fleisch brauchen. Aber: weniger Fleisch nützt der Gesundheit. Raucher begleiteten Sie beim Aufhören eher nicht – aber wie nehmen Sie deren Vorsätze wahr? Aus ärztlicher Sicht muss ich sagen, jede Zeit, die ein Raucher nicht geraucht hat, ist für diesen ein unglaublicher Gewinn an Lebensqualität. Die meisten, von denen ich das Aufhören wahrgenommen habe, haben wirklich von einem auf den anderen Tag aufgehört. Wenn man Ihnen so zuhört, fragt man sich, ob Sie überhaupt Laster haben. Ich mache zu wenig Sport und liebe leckeres Essen. Sonst sieht es bei mir eher so aus: Von Alkohol bekomme ich schreckliche Kopfschmerzen und vom Rauchen huste ich. Zu Ihnen kommen Menschen, die nicht mehr weiterkommen. Wann sollte man sich Hilfe holen? Es gibt immer eine Grenze, an der es sinnvoll ist, einen Mediziner aufzusuchen. Wenn das eigene Gefühl oder auch Menschen aus der eigenen Umgebung sagen, das ist jetzt zu viel. Wenn die Last zu einem Leiden wird oder auch der eigene Alltag und die Arbeit nicht mehr funktionieren. Dann gibt es eine wirklich gute Idee: Bei Genussmitteln zur Suchtberatungsstelle gehen. So eine Beratung ist hochwirksam. Auch einen Gang zum Hausarzt kann ich empfehlen. Dieser kennt Sie gut, hat einen Überblick und kann daher auch eine gute Einschätzung treffen. Zur Vertiefung empfiehlt Michael Lucht folgende Lektüre: 1. „Meditation: Mehr Klarheit und innere Ruhe“ von Marie Mannschatz; 2. „Eine Stunde laufen: Das leichte Programm für jeden“ von Ulfilas Meyer. Michael Lucht (54) ist im Rheinland aufgewachsen kam vor rund 23 Jahren nach Stralsund – zusammen mit Prof. Harald Jürgen Freyberger, der die Klinik bis 2018 über 20 Jahre hinweg als Chefarzt leitete und prägte. Lucht hat in Bonn Medizin studiert und in Bonn und Stralsund seine Facharztausbildung absolviert. Er spezialisierte sich im weiteren Verlauf auf dem Gebiet der Suchtmedizin und habilitierte 2005 mit einer Arbeit zu familiärer und genetischer Weitergabe des Risikos für Alkoholabhängigkeit. Derzeit ist Lucht Leitender Oberarzt der Psychiatrie und Psychotherapie am Krankenhaus West des Stralsunder Helios Hanseklinikums. Von Kay Steinke