Stralsunder Chefarzt Klempien: Darum dürfen Schulen trotz Corona nicht geschlossen werden

Hygiene-Chefarzt Ingo Klempien gilt am Helios-Hanseklinikum als oberster Kämpfer gegen das neuartige Coronavirus. Der Epidemiologie hat für den größten Arbeitgeber in der Hansestadt das Pandemiegeschehen immer im Blick, bundesweit – aber auch in der Region Vorpommern-Rügen und auf der Corona-Station im Krankenhaus West. Mit Sorge blickte Klempien Anfang der Woche auf die Gesamtzahl der Infizierten im Landkreis. Der Kreis durchbrach die 600er-Marke. Dennoch scheint der Lockdown im Ostseekreis Wirkung zu zeigen. Entwarnung kann Klempien trotzdem nicht geben. Für die neuste Ausgabe des Corona-Videopodcast sprach er mit OZ-Lokalchef Kay Steinke über die Lage auf der Intensivstation, Zwangsimpfung, Maskenpflicht in der Stralsunder Shoppingmeile und warum man die Schulen besser nicht dichtmachen sollte. OSTSEE-ZEITUNG: Weihnachten in Familie, könnte ich da schon geimpft sein? Ingo Klempien: Das ist illusorisch. Vielleicht werden vor Weihnachten wirklich schon die ersten Impfdosen bei uns in MV verteilt. Wir werden dann aber noch nicht an der Reihe sein. Zuerst werden die Menschen geimpft, die zur Risikogruppe zählen. Die zweite Gruppe, die schnell versorgt werden muss, ist das medizinische Personal. Besonders müssen die Menschen geschützt werden, die direkt in der Behandlung und Pflege von Corona-Erkrankten beschäftigt sind. Würden Sie zur Impfung raten? Unbedingt. Würden Sie sich auch selbst impfen? Ja. Was halten Sie von Zwangsimpfung. Wäre das gegen Corona sinnvoll? „Zwangsimpfung“ ist ein hartes Wort, „Impfpflicht“ trifft es besser. Dafür bin ich, wenn es sich um Menschen handelt, die in einem Bereich wie der Patientenversorgung arbeiten. Diese Menschen haben eine ganz besondere Sorgfaltspflicht. In dieser Gruppe ist die Impfbereitschaft jedoch im Verhältnis zur Bevölkerung auch generell sehr hoch. Mit Blick auf die Impfskeptiker hoffe ich natürlich, dass sich die Haltung spätestens dann aufweicht, wenn die Impfung eine Auflösung der Einschränkungen mit sich bringt, also wenn Corona-Geimpfte wieder reisen dürfen. Eine Ablehnung der Impfung ist für mich als Arzt persönlich jedoch unverständlich. Wir haben es derzeit mit einer Krankheit zu tun, die tödlich verlaufen kann. Wie hat sich die Lage in der Sundklinik entwickelt? Rund 30 Patienten wurden bei uns seit Pandemiebeginn stationär behandelt. Davon mussten einige auf die Intensivstation. Zuletzt sind es deutlich mehr geworden. So viele Patienten wie jetzt hatten wir im Frühjahr nie. Kam der Lockdown zum richtigen Zeitpunkt? Wenn wir den Lockdown zwei Wochen früher gestartet hätten, wären wir vielleicht glimpflicher durchgekommen. Wenn ich den Trend beobachtete, hoffe ich jedoch, dass wir die Ausbreitung bei uns wirklich schnell wieder bremsen können. Ich persönlich würde mir wünschen, dass man den Bundesländern mehr Freiheiten lässt. Dann wären wir vielleicht in der Lage, Corona-Maßnahmen früher aufzuheben. Oder man überträgt die Verantwortung wieder dem Landkreis? Oder so. Für die Menschen hier fühlt es sich ungerecht an, wenn die Zahlen hier ok sind, die Maßnahmen aber trotzdem gelten. Wie sehen Sie das? Sehe ich ähnlich problematisch. Da wünsche ich mir mehr Vertrauen in den öffentlichen Gesundheitsdienst in Zusammenarbeit mit der lokalen Hygieneszene. Ich wünsche mir für unsere Bevölkerung, dass wir eigene Entscheidungen über Gegenmaßnahmen treffen können. Wir müssen ja nicht gleich wieder die Touristen reinholen. Aber wir könnten dann die Beschränkungen für unsere Einwohner lockern. Was halten Sie von Maßnahmen wie Maskenpflicht in der Fußgängerzone? Kann sinnvoll sein. Aber eher nicht bei uns. Ich denke da eher an sehr belebte Plätze wie der Berliner Friedrichstraße oder auf der Akropolis. Für die Ossenreyerstraße kann ich jedoch auch bei der aktuellen Jahreszeit keine Wirksamkeit ableiten. Was sagen Sie zu den geschlossenen Restaurants? Das stößt natürlich auf Unverständnis in der Bevölkerung. Ich sehe schon, wie die Gastronomie leidet. Aber die Restaurants und Bars leben davon, dass Kontakte zwischen Menschen zusammenkommen. Auch in Stralsund hat sich gezeigt, dass die besten Hygienekonzepte im Arbeitsalltag nicht immer optimal umsetzbar sind. Ich kann nur darauf insistieren, dass wir noch eine Weile mit den aktuellen Einschränkungen leben müssen. Denn gegen die Ausbreitung von Corona ist eine rationale Kontaktbeschränkung das Wichtigste. So etwas geht im Krankenhaus nicht. Wir wollen das als Gesellschaft auch nicht unseren Kindern zu muten, wenn es um deren Ausbildung geht. An Schulen und Kitas hängt jedoch noch mehr dran. Schulen und Kitas könnten nur dann schließen, wenn die Kinderbetreuung gesichert sein würde. Dann müssten die Eltern zu Hause bleiben. Es würde genau die Menschen treffen, die wir im Krankenhaus, in den Arztpraxen oder in den Pflegeheimen brauchen. Der Helios-Konzern nimmt das Thema Krankenhaushygiene sehr ernst. Schon beobachtet und berichtet auch das Sundklinikum regelmäßig mit Zahlen über das Auftreten der drei wichtigsten Erreger in Kliniken. Dazu zählen MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus), VRE (Vancomycin-resistente Enterokokken) und MRGN (multiresistente gramnegative Stäbchenbakterien). Noch relativ neu ist der transparente Umgang mit mit den hauseigenen Covid-19-Zahlen. Über eine Internetseite kann für jede Klinik ein eigener Bericht eingesehen werden. Deutschlandweit werden in den Helios Kliniken derzeit 15655 Patienten ohne Covid-19 auf Normalstation behandelt, 721 sind an Covid-19 erkrankt. Auf der Intensivstation werden Deutschland 1223 Patienten ohne Covid-19 behandelt, 219 Intensivpatienten sind an Covid-19 erkrankt. Für Stralsund sehen die Zahlen so aus: 457 Patienten werden auf Normalstation ohne Covid-19 behandelt, 11 sind an Covid-19 erkrankt. Auf der Intensivstation am Sund werden derzeit 31 ohne Covid-19 behandelt, 2 Intensivpatienten sind an Covid-19 erkrankt. Die Zahlen können über www.helios-gesundheit.de/qualitaet/auslastung/ eingesehen werden. Wie gehen Sie im Krankenhaus mit der Bedrohung um? Wir testen unsere eigenen Mitarbeiter regelmäßig, unabhängig von Symptomen. Dieses Verfahren ist sehr aufwendig, hat sich jedoch bereits bewährt. So konnten wir Fälle rausfiltern, die uns sonst durch die Lappen gegangen wären. Diese Erkrankten wären eine Gefahr für weitere Mitarbeiter gewesen. Dass wir das gesamte Personal testen, bringt Sicherheit für Mitarbeiter und Patienten und schützt vor unentdeckten Infektionen. Und was ist mit der Grippe? Wir testen auch gegen Grippe. Aktuell haben wir aber noch keine Grippefälle. Wir im Nordosten sind damit immer sehr spät dran. Ich appelliere trotzdem, die Grippeimpfung wahrzunehmen. Es gibt schon Engpässe bei der Verfügbarkeit des Impfstoffes. Dieser Aspekt zeigt auch, dass es in der Bevölkerung derzeit eine höhere Impfbereitschaft gibt als sonst. Von Kay Steinke