Stralsunder erwecken tote Tiere scheinbar wieder zum Leben

Ein beachtliches Skelett liegt auf einem Tisch auf dem Hof vor dem Nautineum auf dem Dänholm. Erst beim näheren Hinsehen wird deutlich, was das mal für ein Tier war: ein Hai, genauer gesagt Sandtigerhai-Dame Niki. 2012 kam sie ins Ozeaneum und drehte seither im 2,6 Millionen Liter Becken „Offener Atlantik“ ihre Runden. Das 200 Kilogramm schwere Tier starb im Sommer im Alter von 18 Jahren. Seither war es tiefgefroren. Denn es soll der Ausstellung des Meeresmuseums erhalten bleiben – zumindest sein Schulterskelett mit Kopf und dem beeindruckenden Gebiss. Für die Tierpräparatoren kein alltäglicher Job, denn Niki war ein Publikumsliebling. „Manche Kollegen sind da schon etwas betroffen“, meint Teamleiterin Lena Müller. Die 33-Jährige selbst bleibe aber entspannt. Eisbär vorm Meeresmuseum in lebensechter Haltung: Sie öffnet Nummer 21 unseres Stralsunder Adventskalenders. Noch bis Heiligabend blickt die OZ jeden Tag irgendwo in der Stadt hinter eine besondere Tür und berichtet, was sich dort verbirgt. Lena Müller führt uns zu den Arbeitsplätzen der Tierpräparatoren des Deutschen Meeresmuseums. Sie gestalten die Modelle der Vögel, Fische, Meeressäuger und anderer Tiere, sodass sie oftmals so real und lebhaft wirken, als hätte nur gerade jemand die Zeit angehalten. Auch Nicht-Museumsbesucher dürften die Ergebnisse ihrer Arbeit schon mal gesehen haben – in der Vitrine an der Ecke Mönchstraße/Bielkenhagen. Zurzeit ist dort ein Eisbär zu sehen in lebensechter Haltung. Angefertigt hat ihn Martin Jost vor knapp zwei Jahren. „Das Tier haben wir vom Naturkundemuseum in Berlin bekommen. Bei einem Workshop in München habe ich es bearbeitet und viel Neues gelernt.“ Die Arbeit war zwar innerhalb einer Woche erledigt. Aber: „Ich stand jeden Tag von 7 bis 22 Uhr in der Werkstatt. Einmal auch bis nachts um 4 Uhr“, erzählt der 37-Jährige. Einmal 20 Rochen, bitte: Zurzeit ist Martin Jost damit beschäftigt, 20 Rochen für eine neue Dauerausstellung anzufertigen. Dafür hat er eine Negativ-Form aus Paraffinöl, Ton und Bienenwachs angefertigt, in die er flüssigen Kunststoff gibt. „Diese Materialien werden auch von Maskenbildern beim Film benutzt“, erzählt Lena Müller. Die Nachbildungen bringt Jost dann per Hand in die endgültige Haltung. Mittels Airbrush-Technik bekommen die Rochen ihre Farbe. Eine weitere Methode, um Tierkörper zu erhalten, ist, sie in Polyethylenglykol (PEG) zu tränken – ein ungiftiger Stoff, der das Objekt aushärtet. Als Beispiel zeigt Lena Müller eine Schildkröte, die so aussieht, als würde sie gleich zum nächsten Salatblatt kriechen wollen. Das Tier fühlt sich so an, als wäre es aus Bienenwachs. In die Werkstatt-Räume auf dem Dänholm sind die Präparatoren erst vor einigen Monaten eingezogen. Bis zum nächsten Umzug wird es noch etwas dauern, aber er deutet sich bereits an: Das Nautineum wird in den kommenden fünf Jahren für 20 Millionen Euro erweitert. Neue Räume für die Wissenschaftler, Sammlungen, Fachbibliothek und Labore werden gebaut und auch eine neue Werkstatt für die Präparatoren. Tiere kommen tiefgefroren in Stralsund an: Wir betreten das Herzstück der Werkstatt, einen länglichen Raum mit mehreren Arbeitsplätzen und einem großen Tisch in der Mitte. Hier können schon mal Sätze fallen wie: „Laura, deine Möwe ist aufgetaut.“ Denn Praktikantin Laura Salomo bearbeitet nun eine Dreizehenmöwe. „Ich vermesse das Tier und wiege es“, nennt sie die ersten Arbeitsschritte. Später wird die Haut entfernt, entfettet und gewaschen. Dann wird Hartschaum modelliert, um den am Ende wieder die Haut genäht wird. Das Tier kam gefroren in Stralsund an. In der Regel werden die Möwen tot an der Küste gefunden, eingesammelt und in Tiefkühltruhen in Bauhöfen zwischengelagert, sagt Müller. Sollten sie Verletzungen aufweisen, werde das Blut ausgewaschen. Bevor die Tiere bearbeitet werden, kommen sie in der Sektion bei Linda Westphal an. Sie ist für das Totfund-Monitoring zuständig. Tiere sind oft in gutem Ernährungszustand: Auch alle Robben und Schweinswale, die an Mecklenburg-Vorpommerns Küsten angeschwemmt werden, landen hier, etwa 150 im Jahr, Tendenz steigend. „Wir messen Größe, Gewicht und schauen, in welchem Zustand die Tiere waren, ob sie genug zu fressen gefunden haben und ob sie Krankheiten hatten.“ So sollen Rückschlüsse auf die Populationen und ihre Lebensbedingungen möglich werden. Und wie sieht es gerade aus? „Die Tiere haben oft einen guten Ernährungszustand“, sagt die Meeresbiologin. Für Robben seien die Fische in den Stellnetzen wie eine gedeckte Tafel, was wiederum die Fischer ärgert. Es bestehe zudem der Verdacht, dass viele Robben als Beifang an Bord gezogen und ihre Kadaver dann wieder ins Meer geworfen werden. Unterm Strich hält sie aber fest: „Nach langem Rückgang sind die Bestände wieder stabil.“ Nikis Skelett ist ab 2023 zu sehen: Zwei Räume weiter arbeitet Björn Gründel. „Eigentlich bin ich im Besucher-Service des Ozeaneums. Wegen des Lockdowns ist das Haus geschlossen. Also helfe ich hier mit.“ Gerade entfernt er das Skelett aus einer Möwe. Vor ihm ist ein Glaskasten mit Speckkäfern aus Asien. Dort kommen die Knochen rein. Ähnlich wie Fische, die in der Fußpediküre eingesetzt werden, knabbern die Käfer die Knochen ab. Lena Müller erklärt: „Das werden die Käfer auch bei Niki tun und so das Skelett bereinigen.“ Das Ergebnis können Besucher sehen, wenn das Meeresmuseum nach dem Umbau wieder öffnet. 2023 soll es soweit sein. Sie haben eine Folge des Stralsunder Adventskalenders verpasst? Hier sind alle bisher veröffentlichten Teile im Überblick: Stralsunder Adventskalender Tür 20: Auf der Suche nach dem längsten Flur – Teil 2 Stralsunder Adventskalender Tür 19: Auf der Suche nach dem längsten Flur – Teil 1 Stralsunder Adventskalender Tür 18: So schön lebt es sich im Welterbe Stralsunder Adventskalender Tür 17: Leben auf zehn Quadratmetern – im Gefängnis Stralsunder Adventskalender Tür 16: So läuft es auf dem Bauernhof Perlitz Stralsunder Adventskalender Tür 15: Von schießenden Äxten und fliegenden Funken Stralsunder Adventskalender Tür 14: Stralsunds älteste Firma pumpt seit 1851 Stralsunder Adventskalender Tür 13: Seit 30 Jahren im Dienste der Maske Stralsunder Adventskalender Tür 12: Was passiert, wenn die Nase abfällt? Stralsunder Adventskalender Tür 11: Hinter dieser Tür geht es hoch hinaus Stralsunder Adventskalender Tür 10: In diesem Stralsunder Raum geht es um Leben und Tod Stralsunder Adventskalender Tür 9: Schicker Schmuck aus wuseliger Werkstatt Stralsunder Adventskalender Tür 8: Wenn der OB ins Hinterzimmer lädt Stralsunder Adventskalender Tür 7: Das verbirgt sich hinter Stralsunds wohl schönster Tür Stralsunder Adventskalender Tür 6: In dieser Brücke riecht es nach U-Boot Stralsunder Adventskalender Tür 5: So sieht es im Inneren der Stralsunder Rügenbrücke aus Stralsunder Adventskalender Tür 4: Der Tapentensaal – Raum voller Rätsel Stralsunder Adventskalender Tür 3: Tür auf zu Stralsunds ältestem Schiff: die „Aken“ Stralsunder Adventskalender Tür 2: Eine der ältesten Türen ist wieder schick Stralsunder Adventskalender Tür 1: Keller erzählt Storys von Bier, Bush und Störtebeker Von Kai Lachmann