Vorpommern-Rügens Landrat über die Corona-Krise heute und in Zukunft

Die Corona-Situation in Vorpommern-Rügen war lange Zeit weit weniger dramatisch als im Rest der Republik. Während anderswo Landkreise die Sieben-Tage-Inzidenz von 300 Infektionen pro 100 000 Einwohner überschritten, dümpelte der Wert im „schönsten Landkreis Deutschlands“ (Zitat Landrat Kerth) noch unter 20. Doch nun steigen auch hier die Infektionszahlen. Die OZ hat den Landrat Stefan Kerth (SPD) und den Leiter des Gesundheitsamtes, Jörg Heusler, zur aktuellen Situation und zum Ausblick befragt. OZ: Was sagen Sie zum Anstieg der Zahlen? Stefan Kerth: Wir sind in den vergangenen Monaten so gut durch die Situation gekommen, dass wir eher Rechtfertigungsprobleme in der Bevölkerung hatten, weil wir so einen harten Weg mitgehen mussten. Aber auch bei uns werden – mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – die nächsten Phasen erreicht. Am Ende geht es darum, ob wir es schaffen, die Lage so weit im Griff zu behalten, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird und die Mediziner keine Entscheidungen treffen müssen, wen sie noch behandeln können und wen nicht. Die Frage ist: Wie lange reichen bei uns die Beatmungsplätze? Auch 100 Betten können schnell belegt sein: Wie viele haben wir denn noch zur Verfügung? Jörg Heusler: Genug. Aber man sieht auch den Trend. Deutschlandweit gibt es ca. 30 000 Beatmungsplätze, Ende vergangener Woche waren noch 8000 frei. 1600 waren mit Covid-Patienten, die anderen mit normalen Patienten belegt. Man kann jederzeit Kapazitäten aufrüsten. Aber das Personal wird knapp. In Vorpommern-Rügen gibt es um die 100 Plätze. Ende vergangener Woche waren bei uns vier Covid-Patienten auf der Intensivstation, davon musste einer beatmet werden. Kerth: Es geht nicht darum, jede Infektion zu vermeiden. Es geht darum, das System nicht auszulasten. Der Anstieg der Zahlen ist exponentiell, wird also immer steiler. Der zeitliche Abstand, bis wieder ein Intensivbett belegt wird, verkürzt sich. Zwar kommt nur ein Bruchteil der Infizierten auf die Intensivstation, aber bei hohen Infektionszahlen können auch 100 Betten schnell weg sein. Heusler: Man darf nicht nur auf die eigenen Zahlen schauen. Möglich ist auch, dass wir Menschen aus anderen Bundesländern aufnehmen, wenn dort alle Plätze belegt sind. Etwa fünf Prozent der Infizierten werden stationär behandelt. Infektionszahlen werden noch drei Wochen steigen: Um die Infektionszahlen zu verringern, sind nun die Hotels geschlossen worden und damit ein Kernbereich der Wirtschaft in Vorpommern-Rügen. Der richtige Schritt? Kerth: Ich habe noch bis vor Kurzem dafür geworben, den Tourismus aus den Maßnahmen herauszulassen, weil klar ist, dass er nicht das Problem ist. Aber ich habe Verständnis dafür, dass die Bundesregierung diese Linie fährt. Wenn sich das Infektionsgeschehen wieder gelegt hat, werden wir wahrscheinlich die Ersten sein, die fordern, den Tourismus wieder zu öffnen. Wird der „Lockdown light“ überhaupt etwas an der allgemeinen Lage ändern? Heusler: Der Anstieg der Zahlen wird wieder gebremst. Meine Prognose ist jedoch, dass wir das erst in drei Wochen spüren werden. Der Ansatz mit der Kontaktreduzierung bleibt aber der richtige. Apropos Kontakte: Immer wieder wird kritisiert, wenn beispielsweise Schüler in Quarantäne versetzt werden, dass dann die Geschwister oder die Eltern nicht in Quarantäne bleiben müssen, weil sie ja „nur“ die Kontaktperson der Kontaktperson sind. Wie erklären Sie das? Heusler: Die Diskussion haben wir immer wieder. Wenn ich beispielsweise 700 Kinder einer Schule in Quarantäne versetzen muss und die Kontaktperson der Kontaktpersonen dazunehmen, dann komme ich locker auf 3500 Personen. Und was ist mit der Kontaktperson der Kontaktperson der Kontaktperson? Das wäre dann schon eine Art Lockdown. Wir entscheiden viel im Einzelfall, aber wir brauchen auch Falldefinitionen. Das ist das Schema, das man durchziehen muss. Lesen Sie auch: Bundeswehr kämpft in Vorpommern-Rügen gegen Corona an vorderster Front Bansin: Privates Testzentrum hat schon 750 Abstriche genommen Stralsund: Hochschule schränkt Präsenzbetrieb weitgehend ein „Wir verfallen nicht in Panik“: Sind denn die Infektionsketten immer bekannt? Kerth: Die Leute glauben, dass wir immer alles wissen werden und steuern können. So ist es aber nicht. Es war klar: Wenn eine zweite Welle kommt, dann weiß man nicht mehr alles. Aber das ist das normale Geschäft der Mediziner. Wir verfallen da nicht in Panik. Nimmt der Anteil der Fälle zu, bei denen man die Infektionsketten nicht zurückverfolgen kann? Heusler: Prozentual ja. Es ist für mich aber nicht beunruhigend, denn so laufen Infektionen eben ab. Am Anfang kennt man die Quellen noch. Sei es bei Hepatitis A oder bei anderen Krankheiten, aber da sind wir meistens bedeutend schneller, denn da haben wir andere Mittel. Da haben wir auch Impfstoffe. In der Corona-Pandemiewollen sich wesentlich mehr Menschen als in den Vorjahren gegen die Grippe impfen lassen. In Vorpommern-Rügen ist bereits in einigen Hausarztpraxen der Impfstoff alle. In Deutschland standen laut Gesundheitsamtsleiter Jörg Heusler 27 Millionen Impfdosen zur Verfügung. Wie viele schon verabreicht wurden, ist unklar. Klar ist aber, dass der Landkreis nachbestellt hat und die Lieferung in der 47. Kalenderwoche, also Mitte November, eintreffen soll. Wer sich direkt beim Gesundheitsamt impfen lassen möchte, sollte vorher telefonisch einen Termin vereinbaren (03831 / 357 1000). Auf diese Weise will die Behörde Menschenansammlungen verhindern. Wie viel Zeit ihres Arbeitstages verbringen Sie mit dem Thema Corona? Kerth: Grob gesagt den Ganzen (lacht). In den vergangenen Monaten bin ich wieder richtig schön zu den Sachen gekommen, die man als Landrat üblicherweise zu erledigen hat. Ich konnte mich um Kreistagsbeschlüsse etc. kümmern. Aber innerhalb der vergangenen beiden Wochen hat sich das schon wieder gedreht. Alle Termine, die vermeidbar sind, sagen wir ab. Lesen Sie morgen Teil 2: „Wir testen nicht mehr alle Kontaktpersonen“ – Gesundheitsamtsleiter Jörg Heusler erklärt die neue Strategie des Landkreises Lesen Sie auch Bansin: Privates Testzentrum hat schon 750 Abstriche genommen Stralsund: Hochschule schränkt Präsenzbetrieb weitgehend ein Dahlemann zeigt sich zum Lockdown im Strampler – und erntet Kritik Von Kai Lachmann