Spanien: Viel Impfen hilft viel – bringt aber noch keine Herdenimmunität
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Eine junge Frau aus Valencia hebt den Daumen, nachdem sie gegen das Coronavirus geimpft wurde.
© Quelle: Rober Solsona/EUROPA PRESS/dpa
Spanien. „Hat Spanien die Herdenimmunität erreicht?“ betitelt die medizinische Fachzeitschrift „The Lancet“ am Dienstag einen Artikel über die Corona-Epidemie in Europa. Wie meistens, wenn ein Fragezeichen in einer Überschrift auftaucht, ist die Antwort: nein.
Der „Lancet“-Autor schreibt, dass in Spanien „mehr als 80 Prozent der Bevölkerung jetzt vollständig gegen Covid-19 geimpft“ seien (korrekt sind 78,8 Prozent), und „Experten beginnen zu glauben, dass das Land an der Schwelle zur Herdenimmunität steht“. Allerdings benennt der Artikel keinen dieser Experten und keine Expertin. Der einzige Fachmann, der zu Wort kommt, Jesús Rodríguez Baño vom Macarena-Hospital in Sevilla, bemerkt stattdessen, dass sich die derzeitigen niedrigen Infektionsraten in Spanien „plausibel nur durch die hohe Impfrate“ erklären lassen. Das ist wahr, aber nicht dasselbe wie die Behauptung, dass Spanien die Schwelle zur Herdenimmunität erreicht hat.
Infektionsgeschehen der Länder immer auch vom Rest der Welt abhängig
Spanien ist nach Portugal und Malta das europäische Land mit der dritthöchsten Impfrate und nach Malta das Land mit der zweitniedrigsten Infektionsrate: Die spanische 14-Tage-Inzidenz liegt bei 49, deutlich unter der deutschen von rund 277. Der Zusammenhang zwischen vielen Geimpften und wenigen Kranken scheint also recht offensichtlich zu sein, auch wenn er sich nicht auf eine einfache mathematische Formel bringen lässt – Impfeuropameister Portugal übertrifft Spanien mit einer Inzidenz von gut 107 deutlich. Bei der Ausbreitung des Virus spielen also auch noch andere Faktoren eine Rolle. Aber Impfen hilft.
Was wahrscheinlich eher wenig hilft, sind die Spekulationen über die Herdenimmunität. Ein Menschenvolk ist keine Kuhherde, die sich nicht mit anderen Herden mischt, sondern ein ziemlich mobiler Organismus in ständigem Kontakt mit anderen Menschen jenseits der Grenzen. Was in Spanien (und jedem anderen Land) geschieht, hängt also auch davon ab, wie sich die Pandemie „auf Weltebene entwickelt“, sagt José Martínez Olmos, Fachmann für öffentliche Gesundheit aus Granada, im Gespräch mit der Netzzeitung „eldiario.es“. Sein Madrider Kollege, der Immunologe Alfredo Corell, lobt die Impffortschritte in Spanien, die das Gesundheitssystem vor „einem größeren Kollaps“ bewahrt hätten, „aber sie sind nicht groß genug, um eine Herdenimmunität zu erreichen.“ „Man darf nicht falsche Hoffnungen wecken, dass es keine weiteren Fälle geben wird“, bittet der Epidemiologe Pedro Gullón.
Nach fünf Corona-Wellen: Kaum belastete Krankenhäuser in Spanien
Spanien hat fünf Infektionswellen hinter sich, von denen die erste besonders tödlich war. Die fünfte Welle ist gerade ausgelaufen, und die Inzidenz steigt seit einigen Tagen wieder leicht an. Die Spanierinnen und Spanier sind grundsätzlich recht impfwillig, was aus deutscher Sicht erklärungsbedürftig zu sein scheint, wobei die Spanierinnen und Spanier eher ratlos auf Länder wie Deutschland schauen. Aber auch in Spanien gibt es eine kleine Gruppe von Impfgegnern und Impfgegnerinnen sowie Impfskeptikern und -skeptikerinnen, nach Umfragen sind das zurzeit etwa 7 Prozent der Bevölkerung.
Dazu kommen noch vor allem junge Leute, denen es mit der Impfung nicht so dringend ist. Gut 95 Prozent aller über 40-Jährigen sind komplett geimpft; in der Gruppe der 30- bis 39-Jährigen sind es weniger als 79 Prozent. Die beste Nachricht ist, dass die Krankenhäuser mit zurzeit gut 1700 Covid-Patientinnen und -Patienten – 400 davon auf der Intensivstation – durch die Pandemie kaum noch belastet sind. Doch solange die 14-Tage-Inzidenz nicht auf unter 25 gefallen ist, will die Regierung noch keinesfalls von „Normalität“ reden. Und von Herdenimmunität schon gar nicht.