Lesepaten aus Rostock berichten: Darum lesen wir Kindern vor
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Die Vorlesepaten Ralf-Peter Schriever und Bea Schmidt lesen regelmäßig abwechselnd mit anderen Paten in der Stadtbibliothek Rostock. In der Mitte konzentriert sich die zweijährige Enkelin von Bea Schmidt, Diana, auf die Bilder im Buch.
© Quelle: Klaus Amberger
Rostock. Wie ein Schauspieler liest Ralf-Peter Schriever aus einem Kinderbuch vor: mal laut, mal leiser, mit dunkler oder mit heller Stimme, mit Nachdruck oder zarter Betonung, mit Lachen oder Knurren. Der 68-jährige Rostocker ist ein sogenannter Vorlesepate. Seit fünf Jahren liest er unter anderem Kindern in der Stadtbibliothek der Warnowstadt regelmäßig vor. Er wechselt sich dabei mit 24 anderen Frauen und Männern ab. Der jüngste Vorlesepate ist 13 Jahre alt.
In die Geschichten muss man sich reinhängen
„Es lesen Schüler, Studenten, Berufstätige, Rentner“, sagt Andrea Krause. Die 57-Jährige ist seit 1983 Bibliothekarin in der Hansestadt und organisierte vor gut 15 Jahren die ersten Lesungen mit Vorlesepaten, für Kinder im Alter von ungefähr drei bis sechs Jahren. Im Schnitt wird 15 bis 30 Minuten gelesen. Dabei komme es nicht nur aufs Lesen an, sondern ebenso wichtig sei es, mit den jungen Zuhörern zu sprechen, vielleicht Nachfragen zu stellen. „Ansonsten wird es unruhig“, weiß Ralf-Peter Schriever.
Als Pate müsse man Einfühlungsvermögen und die Lust am Lesen mitbringen, um Kinder zu fesseln. „Die Geschichten müssen für die Kinder erlebbar sein, da muss man sich reinhängen, manchmal wie ein Schauspieler“, berichtet der ehemalige Schiffbaumeister. Er suche sich die Bücher selbst aus, die er vorliest. „Andere bekommen von uns Tipps“, sagt Andrea Krause.
Vorlesen wichtig fürs Lesen- und Schreibenlernen
„Das Vorlesen hat für Vorschul- und Grundschulkinder einen enormen Stellenwert“, betont Andrea Struck (42). Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Grundschulpädagogik an der Uni Rostock meint: „Insbesondere für das Lesen- und Schreibenlernen ist das Vorlesen so wichtig.“ Die Kinder würden gleich in mehrfacher Hinsicht vom Vorlesen profitieren. „Vorlesen bedeutet, Zeit mit den Eltern zu verbringen. Außerdem sind Zeit, Nähe und Ritualisierung für die Entwicklung maßgebend.“
Vorlesepaten animieren zur Nachahmung. Schließlich sitzen Eltern und Großeltern bei den Lesungen mit in der Kinderbuchabteilung und lassen sich anstecken. „Weil ich selbst sehr gern lese – schon als Jugendlicher habe ich Bücher in mich ,reingefressen‘ –, möchte ich diese Leidenschaft gern bei den Kindern wecken“, erklärt Ralf-Peter Schriever. Lesen ist komplex. Man müsse die Buchstaben aufnehmen, zu Worten zusammenfügen, Sätze bilden und verstehen. „Vorlesen und selbst lesen bildet.“ Bücher seien eine Hilfe, den Wortschatz zu erweitern, Fantasie anzuregen, Zusammenhänge zu begreifen und soziale Kompetenzen zu entfalten, ergänzt Andrea Krause.
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Andrea Krause, Bibliothekarin in der Stadtbibliothek Rostock und Initiatorin der Vorleszeit.
© Quelle: Klaus Amberger
„Gerade das starke Kinderprogramm der Stadtbibliothek hat uns in den Urlaub nach Rostock gezogen“, sagt – ein Amerikaner, Elliott Moreton (51) aus North Carolina, der Deutsch spricht und seine Tochter zweisprachig aufwachsen lässt. „Wir lesen seit ein paar Jahren im Internet nach, was in der Rostocker Stadtbibliothek vorgelesen wird“, berichtet Moreton. Nun wollte es der Vater mit seiner Frau Jennifer Smith (47) und der dreijährigen Arachne mal live erleben. Außerdem gab es in der Bibliothek gleich Vorschläge für gute Kinderbücher. „Jetzt warten wir schon auf 12,5 Kilogramm Kinderbücher, die sich noch auf dem Postweg zwischen Rostock und North Carolina befinden“, schreibt er per E-Mail aus knapp 7000 Kilometern Entfernung.
Vorlesepaten seien deshalb bedeutend, weil viele Eltern sich immer weniger mit ihrem Nachwuchs unterhielten, hat Andrea Krause beobachtet. „Durch die teilweise zu starke Nutzung digitaler Medien gibt es mitunter zu wenige Chancen, Beziehungen zu den Kindern aufzubauen.“ Die einfachste Methode, nicht in diese Falle zu tappen, ist vorlesen. „Daraus ergeben sich Gesprächsthemen und -anlässe.“ Man dürfe nicht vergessen, dass ein Großteil der Kinder auch Schwierigkeiten beim Sprechenlernen habe. „Das Vorlesen hilft, solche Schwächen zu verdrängen.“
11 Prozent der Kinder erreichen nicht den Mindeststandard beim Lesen
In Mecklenburg-Vorpommern erreichen mehr als elf Prozent der Grundschüler nicht den Mindeststandard beim Lesen. Damit liegt das Land im Mittelfeld. Zum Vergleich: In Sachsen sind es knapp über sieben Prozent, in Berlin 20 Prozent, in Bremen 25,5 Prozent. Die Zahlen stammen aus Untersuchungen des Institutes für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin aus dem Jahr 2016 und sind die derzeit neuesten. „Im Vergleich zu 2011 ist das Niveau weitgehend stabil geblieben“, sagt Dr. Rebecca Schneider vom IQB. Damit möglichst alle Kinder Mindeststandards beim Lesen bekommen, plädiert die 32-Jährige dafür, das Leseinteresse früh zu fördern. „Am besten, man findet Bücher zu Themen, die Kinder interessieren“, sagt sie. Nicht zu unterschätzen sei die Vorbildfunktion der Eltern oder des Umfeldes. Auch Hörbücher seien eine schöne Variante, um Kinder zum Lesen zu führen. „Auf jeden Fall kann mit dem Vorlesen schon ganz früh angefangen werden.“
„Wir überlegen derzeit, wie und wo wir insbesondere benachteiligte Kinder, die keinen oder nur wenig Zugang zu Büchern und Leuten haben, die ihnen vorlesen, besser erreichen können“, sagt Bibliothekarin Andrea Krause. Eine Zusammenarbeit mit Kindergärten gibt es schon. Ein anderer Blick in die Zukunft kommt von Elliott Moreton aus North Carolina. Er wohnt nicht weit von Rostocks Partnerstadt Raleigh entfernt. Die dortige Stadtbibliothek veranstaltet auch Vorlesestunden. „Vielleicht kann man sich per Skype oder anderer Technik zu Vorlesestunden zusammenschalten – die Zeitverschiebung von sechs Stunden ist gerade noch verkraftbar“, sinniert Mister Moreton. Aus Sicht der Stadtbibliothek sind zweisprachige Lesestunden kein Problem. Einmal im Monat gibt es schon seit einiger Zeit zweisprachige Veranstaltungen, unter anderem mit Armenisch, Französisch und Russisch.
Ralf-Peter Schriever ist am 17. August wieder Vorlesepate in der Bibliothek. „Die Hexe, die sich im Dunkeln fürchtete“ wird er mit aufgesetzter Brille vorlesen, so wie ein Schauspieler. Ein bisschen gerät er jetzt schon ins Schwärmen: „Wenn die Kinder mit offenen Mündern und riesigen Augen vor mir sitzen, dann ist das der größte Lohn, den ich mir denken kann.“
98 öffentliche Bibliotheken gibt es in MV. Vor zwei Jahrzehnten waren es noch fast 200. Im Jahr 2012 wurden vier Fahrbibliotheken gezählt, heute gibt es noch eine. Die Besucherzahlen steigen. Von rund 1,54 Millionen im Jahr 2012 auf 1,66 Millionen im vergangenen Jahr. (In MV leben gut 1,6 Millionen Menschen.) Lesepaten gibt es an vielen Bibliotheken. Oft lesen die Paten auch in Kitas, Seniorenheimen oder während der bundesweiten Vorlesetage. In der Rostocker Stadtbibliothek wird mittwochs um 16 Uhr und an mindestens zwei Sonnabenden um 11 Uhr vorgelesen. Für einen geplanten Leseclub in Rostock Evershagen für 6- bis 12-Jährige werden noch ehrenamtliche Lesepaten gesucht. Projekte etwa wie der Leseförderverein „LeseMöwe“ aus Rostock vermitteln zum Beispiel Lesepatenschaften zwischen Studenten und Grundschulkindern. Wer Vorlesepate werden möchte, wendet sich an die öffentlichen Bibliotheken, Kitas, Horteinrichtungen und Seniorenheime.
Von Klaus Amberger