Was vom Popjahr übrig bleibt

Pop 2022 – das sind die Alben, die man haben muss

Einer der eindringlichsten Sänger und Songwriter: Wilco-Chef Jeff Tweedy (hier bei einem Konzert im Mai 2007 im Dresdner Alten Schlachthof). 2022 brachte die Band aus Chicago ihr neues Album „Cruel Country“ auf den Markt – sowie eine Acht-Disc-Jubiläumsbox ihres Meisterwerks „Yankee Hotel Foxtrot“.

Einer der eindringlichsten Sänger und Songwriter: Wilco-Chef Jeff Tweedy (hier bei einem Konzert im Mai 2007 im Dresdner Alten Schlachthof). 2022 brachte die Band aus Chicago ihr neues Album „Cruel Country“ auf den Markt – sowie eine Acht-Disc-Jubiläumsbox ihres Meisterwerks „Yankee Hotel Foxtrot“.

Jeff Tweedy blickt auf sein zerrissenes Land und auf das große Ganze: „The universe / could be worse“ singt der US-Sänger mit kratziger Stimme – es könnte schlimmer sein, das Weltall. Und das klingt tröstlich. Man muss die Kamera nur hoch genug ziehen, dann wird alles wieder gut.

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Was man aus 2022 an Popmusik unbedingt jederzeit zur Verfügung haben muss – sei es haptisch oder digital – ist zuallererst Wilcos neues Album „Cruel Country“, das vom Leben in Amerika erzählt, von Liebe, Tod und auch mal dem Teufel. Apartere Songs als diese 21 kann in diesem Jahr man kaum kriegen. Auf den ersten Blick markieren sie eine Rückkehr der Band aus Chicago zu Country- und Folkwurzeln, erscheinen aber mit jedem Hören differenzierter. Ein Album, das sich öffnet wie eine Blüte. Die Songs „Mystery Binds“ und „Many Worlds“ enthalten traumhafte Gitarrensoli. In „Many Worlds“ schaut Tweedy zum Himmel und sieht Welten, die schon vergangen sind. Es geht eigentlich um vergangene Liebe, klar.

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Sondre Lerche, Norweger, Wahlamerikaner, hat mit „Avatars of Love“ in diesem Jahr (s)ein Meisterwerk vorgelegt. Wer ein Herz hat für unaufgeregt aparten Pop mit Jazznote, für Bossa Nova und Folk, für Musik im Geiste von Al Stewart und Prefab Sprout – für den ist dieses Album Balsam in Musik. Bossa gehört auch zu den Klangquellen von Joshua Michael Tillman. Unter dem Künstler-Alias Father John Misty gibt sich der Ex-Drummer der Fleet Foxes auf „Chloe And The Next 20th Century“ als Trüffelschwein der Melodie und Opulenzbestie in Sachen Arrangements: Cole Porter und Stan Getz lassen grüßen – alles hier sind potenzielle Lieblingssongs.

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Calexico als Begleitband eines schottischen Musikers

Wie bei Calexico aus Arizona, die nicht nur auf „El Mirador“ ihren Wüstenrock mit der Trompete veredeln, sondern auch – fast noch schöner – als Begleitband des schottischen Musikers Dean Owens dessen Album „Sinner‘s Shrine“ zum Traum machen. Um in Schottland zu bleiben: Das schönste Heimwehlied des Jahres heißt „Edinburgh“ und stammt von Adam Holmes. Sein aktuelles Album „Hope Street“ ist voller heimeliger Liedschönheiten, die soulige Stimme macht Winterstuben warm. Eine „bridge over troubled water“ für Zeiten wie diese.

Unter den Reglern von Rick Rubin schufen Neil Young & Crazy Horse mit „World Record“ ein slidendes, rumpeliges Blues- und Folkrock-Energiebündel, das auch mal walzert und das in dem 15-minütigen Gitarrenmahlstrom „Chevrolet“ gipfelt, einem leidenschaftlichen Abgesang auf den fossil betriebenen Straßenkreuzer. John Mellencamp lud sich für sein Album „Strictly a One-Eyed Jack“ den verkaufsfördernden Bruce Springsteen ein, der sich dann spät im Jahr unter dem Albummotto „Only The Strong Survive“ eine Kollektion alter Soul-Gemmen zu eigen machte.

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Es war ein Jahr großer Frauenstimmen

Auch Marley Munroe alias Lady Blackbird, die 2022 ihren Durchbruch mit ihrem Debüt „Black Acid Soul“ hatte, verinnerlicht darauf Fremdes. Ergebnis: zu Herzen gehender Jazz. Man höre sie bei „It‘s Not That Easy“ wo sie mal gewaltig tönt wie eine Gospelgöttin, mal ein dunkles warmes Timbre à la Nina Simone offenbart. „I‘ll fix it for you“, singt sie, „ich mach‘s heil für dich.“

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Der dezent exzentrische Pop von Natalie Mering alias Weyes Blood changiert auf „And in The Darkness, Hearts Aglow“ zwischen Folk und Brian-Wilson-Grandezza, die Stimme erinnert an Aimée Mann oder Joni Mitchell. Chöre steigen auf, Harfen glitzern. Es ist ein Liederbuch über die Pandemiejahre, die Jahre verordneter Einsamkeit, die Jahre ohne Bühne. All das ist einigermaßen vorbei, aber das Echo der leeren Zeit hallt bis heute.

Rekordfrau Taylor Swift: Zehn Songs von „Midnights“ schafften es zeitgleich auf die Plätze eins bis zehn der US-Charts. Goodbye Folk – hello beats: Swift hat den Weg zum Synthpop gefunden – und der Kontrast der Elektrosounds zur hellen, sehnsuchtsvollen Stimme ist berückend. Mit einem Sound zwischen Trap-Soul und House steht „Renaissance“, die siebte Platte von Beyoncé im Dienst der Selbstvergewisserung wie auch der DJs – erstmals gab es bei der Texanerin, die einst ihren ersten Gesangswettbewerb mit John Lennons „Imagine“ gewann, keine Balladen. „Summer Renaissance“, der letzte Song verneigt sich vor dem Königstrack der Disco-Ära - Donna Summers „I Feel Love“.

Und Vorjahres-Super-Bowler The Weeknd alias Abel Tesfaye hat mit „Dawn FM“ ein seduktives, poppiges Juwel voller 80er-Jahre-Vibes veröffentlicht, das auch von der Endlichkeit handelt: „I almost died in the discothèque.“ Gibt schlimmere Orte.

Husten – so ungesund heißt Gisbert zu Knyphausens 2016 gegründetes Trio, das auf seinem Debüt „Aus allen Nähten“ allergesundesten Indiepop bietet. „Dasein“, das Knyphausen mit Sophie Hunger zu einer dunkel twangenden Gitarre singt, ist so eins von den zauberischen Duetten, die man sich nach dem letzten Versuch mit dem Defibrillator als Soundtrack für den eigenen Weg ins Licht wünscht.

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Die Nerven lieferten auf dem fünften namenlosen Album einen Indierock, an dem Tocotronic erst mal vorbei müssen. Obschon vor der Pandemie entstanden, ist das schwarz becoverte Album mit dem schwarzen Hund Zeitgeist in Klang: „Alles in und um uns rum / ist zum Zerreißen angespannt“, singt Max Rieger, „Baby, setz‘ den Wagen an die Wand.“

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OK Kid ziehen auf „Drei“ gegen Fremdenhasser, Klimawandelignoranten und Querdenker zu Felde. Klartext zu Klassepop – Jonas Schubert im Zorn: „Wenn das, was ihr seid, wirklich Mensch sein soll / will ich keiner mehr sein.“ Politisch auf Schaum ist auch Heinz Rudolf Kunze. Sein „Auf frischer Tat ertappt“ legt davon Zeugnis ab und ist der Sieger in der Kategorie „Bestes Livealbum national“ – so rau und zugleich verspielt war Old HRK mit seiner Verstärkung noch nie.

„Bestes Livealbum International“? Hiss Golden Messenger mit „Wise Eyes“. 17 vollkommen entspannte und entspannende Songs mit inspirierten Gitarrensoli aus dem Fundus der ungenierten Genreverwirbler aus North Carolina – mit Verbeugungen vor den Grateful Dead („Bertha“) und Merle Haggard („Mama Tried“). Allein das Cover von Darryl Norsen mit dem Pfeife rauchenden Lachs-Reiter wäre ein Kaufgrund.

Aufwendige Boxen für Musikarchäologen

Den RND-Grammy für die beste Box des Jahres teilen sich in diesem Jahr drei Bands. Noch einmal kommen Wilco zum Zuge. Auf acht CDs wird „Yankee Hotel Foxtrot“ (Nonesuch) sediert, das Album, mit dem die Band, die vom Alternative Country kam und zuvor bei „Summerteeth“ bis zu den Beatles („She‘s a Jar“) und Beatles-Epigonen wie ELO („A Shot in the Arm“) vorgedrungen war, ihre Fans mit Art- und Krautrock-Exkursionen herausforderte. Der aus dem Morsealphabet kommende Titel las sich abgekürzt „YHF“, was im Englischen „Why? Hey, Jeff!“ ausgesprochen wird und in etwa die Verblüffung der Superharmonisches gewöhnten Wilco-Anhängerschaft über Wilco-Mastermind Jeff Tweedys neue Klangwelten zum Ausdruck brachte. Um 81 (!!!) unveröffentlichte Aufnahmen wird das Meisterwerk erweitert. Es finden sich Entwicklungsstadien, die definitiven Versionen und Livevarianten des Materials – eine fantastische musikarchäologische Reise.

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Ein ähnlicher Trip wartete 2022 auch auf Beatles-Fans. „Revolver“ (Parlophone) war das wagemutigste Album von John, Paul, George und Ringo gewesen, war 1966 der Sprung ins Experimentelle, in Songs, die nicht mehr live reproduzierbar waren, weshalb die Beatles ihre Tourneen (und damit die Beatlemania ihrer weltweiten Teenie-Gemeinde) beendeten. Auf „Revolver“ herrscht zauberische Vielfalt vom klassisch beatligen „And Your Bird Can Sing“ bis zum streicherdurchwirkten „Eleanor Rigby“, vom funkigen „Got to Get You into My Life“ bis zum psychedelischen „Tomorrow Never Knows“. Die Doppeldisc enthält den traumhaft plastischen Remix von Giles Martin (beim 50. Geburtstag von „Revolver“ war die dafür benötigte Technik noch nicht vorhanden). Auch hier kann man das Entstehen von Songs nachvollziehen: Das lustige „Kinderlied“ „Yellow Submarine“ war in seinen Anfängen tatsächlich eine tieftraurige Ballade – gesungen von John Lennon.

Als die Heartbreakers Hausband im Fillmore-East waren

Tom Petty – noch ein Genie, das an Oxycodon starb wie anderthalb Jahre vor ihm schon Prince. Von dem Schöpfer legendärer Alben wie „Southern Accents“, „Full Moon Fever“ oder „Wildflowers“ erschien jetzt „Live At The Fillmore“, ein Boxset mit 58 Liedern und 14 Spoken-Word-Tracks, die Petty mit seinen Heartbreakers 1997 binnen eines Monats als „Hausband“ des legendären Fillmore-West in San Francisco live spielte. Ein Fest, das den Songwriter als Musikliebhaber zeigt – man hört hier Pettytessen wie Chuck Berrys „Bye, bye Johnny“, „Satisfaction“ von den Stones, „Eight Miles High“ von den Byrds. Und, und, und.

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Wer 2022 noch überraschte: Die Britpop-Altmeister Suede um Brett Anderson, weil sie auf „Autofiction“ rocken wie in jungen Jahren, die Britrocker Arctic Monkeys, weil sie bei „The Car“ so elegant schimmern und den Rock weitgehend weglassen, der texanische Stetson-Träger Charley Crockett, weil sein Country auf „The Man from Taco“ bis in den Blues, Soul und den Jazz hineinreicht, die belgischen Warhaus, deren Nick-Cave-meets-Funk-Klang mit den satten Streichen auf „Ha Ha Heartbreak“ ein sinnliches Hörerlebnis ist.

Sie werden immer besser: A-ha mit dem neuen Album „True North“

Letzte Klänge gab es 15 Jahre nach seinem Tod vom rangersten europäischen Piano-Jazzer Esbjörn Svensson. Das Album „HOME.S“, dessen neun Stücke nach Buchstaben des griechischen Alphabets benamst sind, wurde unter Jazzfans als Sensation aufgenommen – ein Piano-Soloalbum mit oft melancholischem Klang.

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In Melancholie sind auch die nördlicher beheimateten A-ha groß, deren elftes Album „True North“ orchestral ist, dabei auf Wurzeln verweisend, die in der britischen Pop- und der amerikanischen Folkmusik der Sechzigerjahre liegen. Schon auf ihrem zweiten Album „Scoundrel Days“ hatten die Norweger 1986 erkennen lassen, dass sie mehr waren als noch so ein 80er-Jahre-Synthpopding. Seit ihrem Comeback 1998 haben Pål Waaktaar-Savoy, Morten Harket und Magne Furuholmen bewiesen, dass der zweite Frühling manchmal der blütenreichere ist. Von einem Aha-Erlebnis wollen wir – no jokes on names – nicht reden. Auch nicht von einem grandiosen Spätwerk – schließlich ist Sänger Harket erst 63 Jahre alt.

Aber beides träfe uneingeschränkt zu.

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