Forscher: Geldprämien für Umzug aus Dörfern in die Stadt
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Thomas Peterson, Bürgermeister von Gribow bei Gützkow, hält nichts von staatlichen Umsiedlungsprämien.
© Quelle: Martina Rathke
Greifswald. Ostdeutschland ist auf die Bevölkerungszahl des Jahres 1905 zurückgefallen. Vor allem die ländlichen Regionen – wie Vorpommern, die Lausitz oder Nord-Sachsen – bluten aus. Das ist der Kern einer jüngst veröffentlichten Studie des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung München. Der ifo-Volkswirt Joachim Ragnitz sorgt ausgehend von diesen Zahlen mit einer These für Empörung: "Man muss den Menschen in sterbenden Dörfern Angebote zur Umsiedlung in nächstgelegene größere Städte machen, wo eine moderne Infrastruktur vorhanden ist, die alle Bedürfnisse des täglichen Lebens befriedigt." Denn die tägliche Daseinsvorsorge werde in ländlichen Regionen immer schwieriger zu finanzieren sein, sagt der Wissenschaftler der OSTSEE-ZEITUNG.
Ragnitz – der bereits den Begriff des „Wolfserwartungslandes“ prägte – fordert, dass der Prozess des Rückzugs gesteuert wird, damit nicht noch dort investiert werde, wo in zehn bis 15 Jahren sowieso keiner mehr lebt. „Es macht ökonomisch keinen Sinn, eine Buslinie in einen Ort fahren zu lassen, in dem nur noch fünf bis sieben Häuser stehen.“ Der Forscher plädiert deshalb für ein finanzielles Anreizsystem, über das den Menschen die Kosten für den Umzug finanziert werden.
Gleichwertige Lebensverhältnisse – politisch verminter Begriff
Politisch ist das Gelände vermint. In ländlichen Regionen wurde mit dem Rückgang der Einwohnerzahlen nicht nur der ÖPNV ausgedünnt. Es fehlen nahe gelegene Einkaufsmöglichkeiten oder ein Arzt. Die AfD ist besonders dort stark, wo sich Menschen „abgehängt“ fühlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte noch während des Wahlkampfes 2017 in ihrem vorpommerschen Wahlkreis betont, sich für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse einzusetzen. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse wird in Artikel 72 des Grundgesetzes als Ziel beschrieben. Doch was Gleichwertigkeit heißt, ist umstritten. Eine hochrangig besetzte Kommission der Bundesregierung sucht seit 2018 nach Wegen, wie diese herzustellen ist. Zu einem Ergebnis ist sie bislang nicht gekommen.
Der Greifswalder Politikwissenschaftler Stefan Ewert hält eine Diskussion darüber, ob Strukturfördermittel sinnvoll sind, für legitim. „Es ist gerechtfertigt zu überlegen, wie setzen wir Steuergelder ein und wie vielen Menschen kommt die Leistung zugute“, sagt er. Aber: Ein ökonomistischer Blick allein auf die Anzahl der Bewohner sei verkürzt. „Schnelles Internet kommt nicht nur den fünf Häusern in einem Dorf zugute, sondern auch zum Beispiel der modernen Landwirtschaft“, so Ewert. Die Straßeninfrastruktur in den ländlichen Räumen werde nicht nur von den Bewohnern, sondern auch von der Wirtschaft (Agrar, Forst) genutzt – von der im übrigen auch die Stadtbevölkerung profitiert.
Staatlich gelenkte Umsiedlungen gibt es bereits
Staatlich gelenkte Umsiedlungen sind nicht neu. Dort, wo Kohletagebaue in der Lausitz oder im Rheingebiet vorrückten, wurden in den vergangenen Jahrzehnten ganze Dörfer platt gemacht. Ein Anreizsystem für einen Umzug in die nächstgrößere Stadt hält Ewert maximal über Prämien denkbar. „Das jedoch würde Mitnahmeeffekte provozieren, die wiederum eine unnötige Steuerausgabe wären“, sagt Ewert.
Der Politikwissenschaftler, der sich mit der Erforschung von ländlichen Räumen befasst, glaubt, dass – ausgenommen von wenigen Kleinsiedlungen – die Dörfer nicht sterben werden. Denn schrumpfende Einwohnerzahlen in den ländlichen Gemeinden bedeuten auch sinkende Immobilienpreise. „Wenn sich Familien in Städten Wohneigentum nicht mehr leisten können, wird es interessant, sich in einem abgelegenen Dorf einen Hof für 20 000 Euro zu kaufen und diesen auszubauen“, sagt Ewert. „Der Markt von Angebot und Nachfrage regelt das.“
Das halten die Landräte von den Umsiedlungsprämien
Michael Sack (CDU), Landrat von Vorpommern-Greifswald: „Aus Sicht des Hammers sieht jeder Kopf aus wie ein Nagel. Bei aller Sympathie für wirtschaftlich ausgerichtetes Denken kann man nicht alle Werte, die unser Land ausmachen, in Zahlen darstellen“, kritisiert der Landrat von Vorpommern-Greifswald, Michael Sack (CDU), die Idee, mit Umsiedlungsprämien Dörfler zur Aufgabe ihrer Heimat zu bewegen. Die Väter der Studie lägen bereits im Denkansatz falsch, denn der Zuzug von Menschen jeden Alters aus den Ballungsgebieten nach Vorpommern habe in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen. „Dies sind Menschen, welche der Stadt ganz bewusst den Rücken kehren, um in Vorpommern ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen.“ Weder aus Norwegen, Schweden und Finnland sei bekannt, kleine Dörfer im hohen Norden aufzugeben. „Was den Staat ausmacht, ist nicht in erster Linie das Geld, sondern es sind seine Menschen.“ Stefan Kerth (SPD), Landrat von Vorpommern-Rügen: „Umsiedlung? Das verletzt die Gefühle der Menschen im ländlich geprägten Raum“, kontert Vorpommern-Rügens Landrat Stefan Kerth die Vorschläge der Ökonomen, Dorfbewohner mit Geld in die Städte zu locken. Wer derartige Vorschläge mache, dem müsse man den Sinn für Realität, Heimat und Familientradition absprechen. In Vorpommern-Rügen sei die Abwanderung längst gestoppt. „Wir haben wieder Bevölkerungswachstum“, so Kerth. Mit der Digitalisierung der Wirtschaft entstünden neue Arbeitsplatze. Der flächendeckende Glasfaserausbau ermögliche es, auch dort arbeiten zu können, „wo es sich im eigenen Häuschen günstig, individuell und wirklich schön wohnen lässt.“ Kerth ist davon überzeugt, dass sich die Wohnsituation umkehren wird. „Viele Familien werden aus der Stadt mit den dort oft überteuerten Mieten künftig aufs Land ziehen.“ Als Problem sieht Kerth die Verkehrsverbindung an die Metropolen an. Daran werde gearbeitet.
Digitalisierung ist Chance für Dörfer
Auch würde eine Umsiedlung von Dörflern in die Stadt den Druck auf den dortigen Wohnungsmarkt weiter erhöhen. Und wo Landwirtschaft Lebensmittel erzeugt, braucht es Menschen, die die Technik bedienen können. „Ist die digitale Infrastruktur für die Landwirtschaft im ländlichen Raum vorhanden, wird es auch für Städter interessant, dort zu leben. Dies gilt vor allem für den steigenden Anteil an Jobs, die zumindest zum Teil im Home-Office stattfinden können“, sagt der Greifswalder Forscher.
„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die Prophezeiungen von Joachim Ragnitz bewahrheiten und ganze Dörfer veröden“, sagt indes eine Sprecherin des Schweriner Infrastrukturministeriums. Vielmehr gehe man davon aus, dass es in den ländlichen Räumen auch künftig ein enges Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Siedlungen geben werde.
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Martina Rathke
OZ