Arsch oder Titten: „Nullerjahre“ von Hendrik Bolz feiert in Schwerin Premiere
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/FN2AKCU7AZFFDMYYHTDW3VA4MA.jpg)
Uraufführung des Schauspiels „Nullerjahre“ in der M*Halle des Mecklenburgischen Staatstheaters: Die Schauspieler Robert Höller (vorn), sowie Annika Hauffe (l) und Rosalba Thea Salomon (r)
© Quelle: Jens Büttner/dpa
Schwerin. Am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin feierte das Stück „Nullerjahre“ nach dem gleichnamigen Debütroman von Hendrik Bolz am 27. Januar seine Uraufführung. Der Autor, der sich als Musiker Testo nennt, ist Rapper im Duo Zugezogen maskulin. Er erlebte die Premiere in der restlos ausverkauften M*Halle mit.
Vom überwiegend jungen Publikum wurde das Stück begeistert aufgenommen. Im Stück „Nullerjahre“ geht es um das Erwachsenwerden. Erzählt wird die Geschichte eines Heranwachsenden in der Stralsunder Plattenbausiedlung Knieper West. Der einstige Vorzeigestadtteil aus DDR-Zeiten ist zum sozialen Brennpunkt geworden. Hier lebten vor der Wende der Lehrer, der Ingenieur, der Hausmeister und die Putzkraft Tür an Tür.
Stralsunder Plattenbau: Kein Bock auf Schule, viel kriminelle Energie
In den Nullerjahren sind nur noch die hier, die es nicht geschafft haben, anderswo eine Existenz aufzubauen: Arbeitslose, Geringverdiener, Rentner. Hiergeblieben sind die Wendeverlierer. Es herrschen Arbeitslosigkeit, Ausländerhass, Homophobie, Gewalt. Unter diesen Bedingungen wächst eine Jugend heran, die auf sich gestellt ist, weil bei den Erwachsenen die Sorge um die nackte Existenz vorherrscht. Es fehlt schlicht an Vorbildern. Es gibt keinen Bock auf Schule und viel kriminelle Energie. Alkohol, Drogen, Sex, Gewalt sind das, was zählt und was den Mann zum Mann macht. Arsch oder Titten das ist die Frage, die den weiteren Weg bestimmt.
Der Wettbewerb untereinander geht bis zur Besinnungslosigkeit. Grenzen gibt es keine. Hemmungen auch nicht. Es stellt sich nicht nur die Frage, wer die dicksten Muskeln, sondern auch, wer die dicksten Eier hat. Wer wichst am weitesten, wer hat schon mal „richtig“? Techno oder Rap? Welche ist die geilste: Britney, Kylie oder Jennifer? Und was ist mit der Liebe? Aber das Happy End lässt auf sich warten.
Uraufführung „Nullerjahre“: Starke Ensemble-Leistung
Regisseurin Nina Gühlsdorf erzählt die Geschichte mit sechs Darstellern, Robert Höller und Oscar Hoppe gehören zum Ensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters, Emil Gutheil, Annika Hauffe, Rosalba Thea Salomon und Aaron Finn Schultz sind Studierende der Hochschule für Musik und Theater (HMT) Rostock, die in diesem Jahr ihre Ausbildung beenden werden.
Die Inszenierung ist eine sehr starke Ensembleleistung. Alle schlüpfen mal in die Rolle des Protagonisten. Die Ebenen wechseln in rasantem Tempo vom Spielen ins Erzählen und umgekehrt. Jungs spielen Mädchen, Mädchen spielen Jungs. Das Stück ist laut, verstörend, manchmal zu direkt, aber auch schreiend komisch, wenn Nacktheit zur Parodie wird. Gut eineinhalb Stunden ist das Ensemble voll gefordert und zeigt eine enorme Fitness und Konzentration. Kein Ausruhen, kein Aufatmen, auch das zeigt das Getriebensein der Jugendlichen.
Schweriner Dreesch: M-Halle als Spielort passt perfekt zum Stück
Die Darsteller sind allesamt gut aufeinander eingespielt und bieten neben der Derbheit ein hohes Niveau an Schauspielkunst. Das chorische Sprechen zum Beispiel ist die ganz hohe Schule. Auch das Publikum ist gefordert und darf Lottofee sein, wenn es darum geht, wer als nächstes in den Ring steigen muss. So sind Bühnenbild und Kostüme Die M-Halle als neuer Spielort des Mecklenburgischen Staatstheaters passt perfekt zur Inszenierung, liegt sie doch auf dem Großen Dreesch, ebenfalls einer zu DDR-Zeiten begehrten Plattenbausiedlung.
Lesen Sie auch
- Festival „Spiellust“ in Rostock: Werkschau der freien Theater in MV
- Piraten Open Air Grevesmühlen: Intendant Peter Venzmer plant neues Karibik-Theater
Die Bühne ist komplett weiß und zeigt eine Wand, die sich je nach Szene mit Hilfe von Projektionen in das Neubaugebiet, den Jugendclub oder Strand verwandelt. So steht das Spiel im Vordergrund. Die Kostüme von Silke von Patay erscheinen wie ein Griff in den Altkleidercontainer oder an Restbestände und erinnern sehr an die 90er. Immerhin bauchfrei ist angesagt.
Derbe Sprache, viele ostdeutsche Klischees
Fazit: Gezeigt wird eine Geschichte, die das Lebensgefühl junger Heranwachsender aus nicht privilegiertem Elternhaus zeigt. Auch wenn hier viele Klischees verarbeitet werden: jung, ostdeutsch, abgehängt, ziellos, verführbar…. lohnt sich das Stück, weil es vielleicht Antworten gibt auf die Frage nach dem Lebensgefühl von Menschen im Osten Deutschlands. Die derbe Sprache muss man aushalten wollen. Sie schmerzt und verstört. Es macht umso mehr Spaß, das junge Ensemble zu erleben, dass die Nullerjahre aus eigener Erfahrung so oder so kennt.
Nächste Vorstellungstermine: 29.1. /19.2. 18 Uhr, 11.2. 19.30 Uhr Tickets: Alter Garten 2, 19055 Schwerin, Telefon: 0385 53 00-123 E-Mail: kasse@mecklenburgisches-staatstheater.de Dienstag bis Freitag 10.00 bis 18.00 Uhr Samstag 10.00 bis 13.00 Uhr