Friedhof der Gruscheltiere: Ein Besuch im leeren StudiVZ
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StudiVZ ist heute ein Internet-Friedhof.
© Quelle: picture alliance / dpa-tmn
Hannover. Es ist der erste Login nach gefühlt zehn Jahren – und er sollte scheitern. Passwort? Keine Ahnung. Ja, selbst die E-Mail-Adresse stellt ein Problem dar. Das war doch die mit dem Fantasienamen, oder? Bei, ähh, Web.de?
Nach ein paar Stunden Passwort-Recherche klappt es endlich: Ich bin drin. Im guten, alten StudiVZ. Doch was ich erblicke ist nicht das, was ich in Erinnerung hatte. Ich schaue auf ein digitales Trümmerfeld, eine endlose rote Wüste, einen Internet-Friedhof – in der Ferne kräht ein Flash-Plugin.
Letztes ist nicht übertrieben: Das StudiVZ läuft tatsächlich mit der selben veralteten Technik wie noch vor zehn Jahren. Und auf der Plattform herrscht gähnende Leere. Nur die Geburtstagsliste auf der Startseite erinnert noch an die guten alten Zeiten des sozialen Netzwerks. Gruschler? Nachrichten? Freundesanfragen? Nada. Selbst im legendären Buschfunk herrscht Stille. Die Funktion scheint inzwischen gänzlich deaktiviert worden zu sein.
Der Rest des ehemaligen Hype-Netzwerks besteht vor allem aus technischen Fehlern und unaufrufbaren Seiten. Wer sich beim Netzwerk registrieren möchte, versucht dies vergeblich – bei der Wahl des Passworts springt die Seite stets zurück auf die Startseite. Wer versucht, das beworbene Spiel „Farm Days“ zu spielen wird auf eine weiße Seite weitergeleitet: „504 ERROR: The request could not be satisfied.“ Am oberen Seitenrand wird ein Musikmagazin beworden – „FreshmilkTV“. Der letzte Eintrag: Der Tod von Prince. Das war im April 2016.
Der Untergang von StudiVZ
All das ist nicht verwunderlich. Die VZ-Netzwerke, zu denen neben StudiVZ auch MeinVZ gehört, gelten seit mindestens zehn Jahren als tot. Anfang der 2010er Jahre verzeichneten die Plattformen einen enormen Einbruch ihrer Nutzerzahlen – die dpa schrieb damals von einem Rückgang der Seitenaufrufe um 80 Prozent.
Immer mehr Freunde verabschiedeten sich von der Plattform – wer nicht rechtzeitig den Absprung schaffte, chattete irgendwann mit sich allein. 2017 meldete die Betreiberfirma Poolworks endgültig Insolvenz an.
Grund für den Absturz des sozialen Netzwerks war damals der Siegeszug von Facebook in Deutschland. Die dritte Plattform im Bunde, das SchülerVZ, wurde 2013 bereits vom Netz genommen. StudiVZ und MeinVZ blieben online.
Aber: Nutzt heute noch irgendjemand diese Plattformen? Und wenn ja: Warum?
Jede Menge Beschwerden im Hilfe-Forum
Tatsächlich ist über aktuelle Besucherzahlen von StudiVZ und MeinVZ nichts Offizielles bekannt. Schon seit 2012 werden die Zahlen nicht mehr von der IVW erhoben. Doch es gibt Indizien für einige noch aktive Nutzer auf der Plattform.
Zum Beispiel im Hilfe-Forum der Seite: Hier posteten die Betreiber noch am 15. März 2019 ein kleines Status-Update: „Wir haben die Performance nach dem Umzug auf die neuen Server optimiert. Wir werden diese weiterhin im Auge behalten und weitere Verbesserungen umsetzen“, kündigten sie an.
Darunter kommentieren zahlreiche Nutzer. Einer beispielsweise beschwert sich, dass die Seite schon „seit Wochen nicht mehr so funktioniert wie sie sollte“. Ein anderer empört sich: „Seit Tagen kein Einloggen in MeinVZ möglich!!!!“. Es scheint also tatsächlich noch Menschen zu geben, denen der Betrieb dieser Seite etwas bedeutet.
Geblieben wegen des Datenschutzes
Ich versuche einige noch aktive Nutzer ausfindig zu machen und verschicke Nachrichten an sie. Ich will herausfinden, was genau sie noch auf der Plattform hält. Die allermeisten von ihnen antworten nicht – doch immerhin einer meldet sich zurück. Er nennt sich „Alex“, in seinem Profilnamen sind – ganz VZ-typisch – ein paar Sonderzeichen zu sehen. Etwas, das bei Facebook schon vor Jahren unterbunden wurde.
Alex erklärt, dass er „MeinVZ“ vor allem wegen des Datenschutzes nutzt. „Ich habe keine Lust, dass meine Daten wie bei anderen sozialen Medien weitergeleitet werden“, schreibt er. Außerdem habe er in den vergangenen Jahren viele Freunde auf der Plattform gefunden. „Leider ist es in den letzten Jahren weniger geworden, weil viele bei Facebook vertreten sind und diese Plattform hier vernachlässigen. Aber sowohl junge und auch ältere nutzen das VZ-Netzwerk noch zum Austauschen und auch um neue Freunde zu finden“, weiß Alex.
Seine Kontakte im Netzwerk hätten ähnliche Motive: Auch ihnen geht es um den Datenschutz. Ein anderer Grund: „Vielen reicht ein soziales Netzwerk. Die Leute, die zu Facebook gewechselt sind, haben es gemacht, weil alle dort sind und weil es natürlich seinerzeit modern war, dort einen Account zu haben. Mein Empfinden ist aber, dass in letzter Zeit viele junge Leute wieder hier aktiv sind."
Noch immer aktive Gruppen
Alex' Vermutungen decken sich – zumindest teilweise – mit meinen Beobachtungen in den legendären Gruppen von StudiVZ und MeinVZ. Waren diese mit ihren ironischen Kalendersprüchen seinerzeit noch Ausdruck der eigenen Persönlichkeit im noch jungen Social Web, so handelt es sich heute um echte Internetruinen.
Dennoch: In einigen dieser Gruppen ist bis heute Bewegung. In einer Gruppe mit dem Namen „BILDER DIE die SINNE ANREGEN UND MUSIK DER VERGANGENHEIT & JETZT“ postet beispielsweise Nutzerin „Gerda“ (Name geändert) seit mehreren Jahren verlässlich in regelmäßigen Abständen Gedichte. In der Gruppe „Die Horrorfilmgucker“ teilen auch im Jahr 2020 immer noch regelmäßig Nutzer ihre Lieblingsfilme mit – als wäre der Untergang von StudiVZ ein moderner Mythos. Auch Gruppen zu Star Wars und Browserspielen gibt es.
Und dann wäre da noch eine ganz besondere Gruppe, mit ganz speziellen Inhalten. Sie trägt den Namen: „Meine Erotischen Geschichten“. Ein besonders aktiver Nutzer dieser Gruppe ist „Gerald“ (Name geändert). Seine fiktiven Sexgeschichten tragen Namen wie „In der öffentlichen Sauna“ oder „Die Umkleidekabine“. Andere Nutzer präsentieren Storys wie „Outdoor gefistet“ oder „Einfach mal Blankgezogen am Rhein“.
Schmutzige Sexgeschichten und Parallelwelten
Zugegeben: Auch in der Sex-Gruppe ist nicht mehr so viel los wie wahrscheinlich zu Hochzeiten von StudiVZ und MeinVZ. Dennoch scheint die Plattform bis heute ein Rückzugsort verkannter kreativer Köpfe zu sein.
2013 hatte der Radiosender 1Live über eine kuriose Entwickung beim inzwischen eingestampften SchülerVZ berichtet. In den Ruinen des verlassenen Netzwerks hatten sich Nutzer ein Art Parallelwelt erschaffen: Sie gaben sich Namen von bekannten Stars oder gänzlich erfundenen Personen und entwickelten daraus ein eigenes Rollenspiel – damals bekannt unter dem Namen FakeVZ.
Die Fake-Gemeinde versammelte sich in brach liegenden SchülerVZ-Gruppen und schrieb Kurzgeschichten. Eine Nutzerin des ungewöhnlichen Rollenspiels beschrieb das Ganze seinerzeit in einem Beitrag als „Erholung vom Alltag“. Nach dem Ende von SchülerVZ wechselten einige der Nutzer zu den verbleibenden Netzwerken StudiVZ und MeinVZ.
Wie geht es weiter mit den VZ-Netzwerken?
Ob die FakeVZ-Community auch heute noch ein Thema ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. In den allermeisten VZ-Gruppen sind die neuen Beiträge überschaubar, nur einige wenige tauschen hier ihre Geschichten aus.
Die Zukunft des ehemaligen Erfolgsnetzwerks scheint ebenfalls völlig unklar. Die letzte Meldung des Betreibers stammt aus dem Jahr 2017. Kurz zuvor hatte der US-Konzern Momentous Entertainment Group (MEG) die VZ-Netzwerke für zehn Millionen US-Dollar übernehmen wollen – doch daraus wurde nichts. Der Deal platzte in letzter Sekunde, der Betreiber Poolworks meldete Insolvenz an.
In einem Blogpost hatten die Mitarbeiter seinerzeit erklärt, man habe an einer neuen Plattform gearbeitet – also ein Relaunch der gesamten VZ-Gruppe. Ein Prototyp sei seinerzeit bereits fertig gewesen, veröffentlicht wurde er jedoch bis heute nicht. Ob das jemals passieren wird? Eine RND-Anfrage beim VZ-Betreiber blieb bis heute unbeantwortet.
Für Alex jedenfalls wäre eine Abschaltung seines Lieblings-Netzwerks mehr als tragisch: „Mir ist das Netzwerk wichtig und ich möchte nicht, dass es bald abgeschaltet wird“, erklärt er. Besonders stolz ist er auf seine prall gefüllte MeinVZ-Pinnwand: „Da habe ich über 6 Millionen Einträge. Mehr hat keiner.“