Prostitution in der Pandemie: Ein blinder Fleck
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28.07.2020, Hamburg: Sexarbeiterinnen demonstrieren auf dem Hamburger Kiez gegen ein coronabedingte Arbeitsverbot im Rotlichtsektor. Während zahlreiche Prostituierte in Deutschland noch immer auf den Neustart für die Bordelle warten, können Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein bereits wieder Freier empfangen.
© Quelle: Daniel Reinhardt/dpa
Wenn man über Prostitution schreiben möchte, ist es vielleicht hilfreich, nicht mit einem Einzelfall einzusteigen, mit der typischen Schilderung eines Raumes, in dem ein Mann von einer Frau eine sexuelle Dienstleistung erkauft. Mit der Schilderung von Plataeuschuhen und Unterwäsche. Vielleicht schafft es Klärung, wenn man versucht, anlässlich des heutigen Welthurentags einen Überblick zur Arbeitssituation von Prostituierten zu verschaffen. Denn wie auf die Branche geschaut wird, hat sich auch durch die Corona-Pandemie verändert.
400.000 Prostituierte in Deutschland – woher kommt die Zahl?
Wer nach Fakten zu Prostituierten sucht, stochert im Nebel herum. In Berichten wird immer wieder die geschätzte Zahl von etwa 400.000 Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern in Deutschland genannt. Doch diese Zahl hat sich seit Jahren nicht geändert. Seit der Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes 2017 können sich die Frauen und Männer amtlich anmelden. Zuletzt vermeldete das Statistische Bundesamt 40.400 angemeldete Prostituierte in Deutschland.
„Zahlen sind Schall und Rauch“, sagt Stephanie Klee, Sexualassistentin und Vorsitzende des Bundesverbandes Sexuelle Dienstleistungen, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Ich bin eine alte Hure. Und ich weiß, wie die Schätzungen entstanden sind – die Zahlen haben sich auch nach der Wiedervereinigung nicht verändert. Versucht man allerdings, sich dem von anderer Seite zu nähern und bei der Schätzung von den Angeboten in den Portalen ausgeht und die Einwohnerzahl der Städte hinzuzieht, kommt man auf 50.000 bis 70.000 Prostituierte bundesweit.“ Nach einer kurzen Pause sagt sie: „Das erscheint mir realistischer.“ Auch Stefan Hauf vom Statistischen Bundesamt sagte in einem Interview mit der „Zeit“ zu den geschätzten 400.000 Frauen: „Wahrscheinlich ist sie [die Zahl] nicht sehr faktenbasiert.“ Sie ist nach seinen Recherchen von einer Prostituiertenvereinigung in den 1980er Jahren in die Welt gesetzt worden.
Wenn die Prostitution in Deutschland vor der Krise schon ein blinder Fleck war, hat sich dieser während der beiden Lockdowns noch vergrößert. „Jetzt im Lockdown waren die Anmeldestellen geschlossen. Das Personal und Ansprechpartner wurden abgezogen.“ Mit einer Annäherung der Zahlen des Bundesfamilienministeriums mit der Realität rechnet sie ebenso wie das Ministerium erst ab dem kommenden Jahr – oder noch später.
Stephanie Klee ist Vorsitzende des Bundesverbandes für sexuelle Dienstleistungen – hier bei einer Demonstration in Stuttgart.
© Quelle: Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen
Erste Bordelle öffnen nach dem Lockdown wieder
Die Bordelle werden nun, wo die Inzidenzzahlen sinken, langsam wieder geöffnet. In Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt geht das Rotlicht wieder an. Andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen haben die Öffnungen ab einer stabilen Inzidenz unter 35 eingeplant, Berlin plant mit einer Öffnung ab dem 18. Juni. In Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, dem Saarland, Sachsen, Hamburg, Niedersachsen und Bayern sind Öffnungsschritte nicht abzusehen. Auch wenn zwischen Mai und dem 2. November 2020 Prostituierte wieder arbeiten konnten, besteht der Lockdown für sexuelle Dienstleistungen in Hessen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern seit Beginn der Pandemie.
Wie ging es den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, während die Bordelle geschlossen waren? Einige Frauen würden sich beruflich umorientieren und aussteigen, sagt Klee. „Eine Kollegin aus Bayern, sie ist etwa Mitte 50, hat eigentlich immer Termingeschäfte gemacht. Da fährt man für eine Woche in eine fremde Stadt und in ein fremdes Apartment und arbeitet dort. Zu Beginn der Pandemie hat sie sich erst einmal erholt – sie hat auch Grundsicherung bekommen“, berichtet Klee. Und die Zeit habe sie genutzt, um zu überlegen, ob sie sich nicht doch umorientieren wolle und eine Ausbildung in der Pflege mache. Solche Überlegungen stellten andere auch an.
Keine Zahlen zu Umschulungen von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern
Eine weitere Kollegin, die regulär als Domina in ihrem eigenen Studio arbeite, habe sich während des Arbeitsverbots einen Übergangsjob gesucht. „Sie wollte nicht von der Grundsicherung und Behörden abhängig sein und hat in einem Gartencenter gearbeitet. Wenn sie ihr Studio wieder öffnen kann, wird sie da aber sofort weitermachen.“ Doch auch das sind Fallbeispiele. Auf Nachfrage des RND bei der Bundesagentur für Arbeit gibt es keine Zahlen zu Umschulungen von Prostituierten oder von der Vergabe von Bildungsgutscheinen für Weiterbildungen an diese. Der Grund: Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter führen oftmals bei solchen Beratungen Prostitution häufig nicht als Beruf, um Stigma zu vermeiden, heißt es bei der Bundesagentur für Arbeit.
Einige wenige Frauen seien nach den Informationen von Stephanie Klee auch in europäische Nachbarländer gereist, um während des Lockdowns dort ihre Arbeit auszuüben. „Aber da war es oft schwierig, einen Platz zu finden. In den Grenzregionen sind manche Kunden ebenfalls ins Nachbarland gefahren – ähnlich wie beim Einkaufen“, sagt Klee im Gespräch.
Prostituierte arbeiten im Lockdown weiter – unter gefährlichen Bedingungen
Doch es gibt nicht nur solche Geschichten von Frauen, die die Krise nutzen, um sich neu zu orientieren, aufzustellen oder auszusteigen. Einige Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter haben trotz des Verbots im Verborgenen weitergearbeitet. „Es gibt einige Kolleginnen, die keine Corona-Hilfen erhalten haben und die sind in so großer wirtschaftlicher Not, dass sie keine andere Alternative hatten, als anschaffen zu gehen“, so Klee. Auch wenn sie bei Zahlen zu Vorsicht mahnt, schätzt sie: „Es gab mehr Sexarbeiterinnen, die anschaffen gehen mussten als es solche gab, die Hilfen erhalten haben“, so die 59-Jährige. Zeitungsberichte aus der Lockdownzeit bestätigen den Eindruck, dass die Arbeit trotz Verbots vielerorts versteckt weiter lief.
„Die Corona-Krise hat auch die Kunden verändert. Einige sind noch freundlicher geworden, aber andere nutzen die Notsituation der Frauen, die unerlaubt arbeiten, aus. Sie werden gewalttätig oder drohen, sie bei der Polizei anzuzeigen, wenn diese nicht tun, was sie wollen“, so Klee. Dazu kommt: Wenn früher ein Freier Grenzen überschritt, dann konnte eine Prostituierte vor Corona zu ihren Kolleginnen und Kollegen gehen, zu den Bordellbetreibern und -betreiberinnen. Der Freier wurde dann rausgeschmissen. Ohne diese gegenseitige Hilfe begeben sich die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in noch größere Gefahr.
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter fielen durchs Corona-Hilfe-Raster
Der Grund, warum einige Prostituierte durch das Corona-Hilfe-Raster gefallen seien, sei das sogenannte Düsseldorfer Verfahren, ein Besteuerungsverfahren. Hier müssen Bordellbetreiber und -betreiberinnen eine Steuerpauschale zahlen. Die Frauen erhalten dann eine Quittung darüber, doch wenn sie danach keine Steuererklärung abgeliefert haben, etwa, weil sie nicht wissen, wie, erhalten sie jetzt auch keine Hilfen. „Die Corona-Krise legt wie woanders auch die strukturellen Probleme offen. Unter Corona ist deutlich geworden, wie wenig der Staat für Prostituierte tut“, sagt die erfahrene Sexarbeiterin Klee im Gespräch.
Licht ins Dunkel sollte das Prostituiertenschutzgesetz bringen, das 2017 in Kraft getreten ist. Die Anmeldemöglichkeit für Prostituierte sollte sie vor Kriminalität und Ausbeutung schützen. Außerdem unterliegen alle Prostitutionsstätten einer Erlaubnispflicht. Doch wird selbst im Zwischenbericht des Bundesfamilienministeriums berichtet, dass bei einem Fazit zum Gesetz das Dunkelfeld nicht beleuchtet werden kann – und bis zur Veröffentlichung des Berichts im Juli 2020 die Datenbasis noch sehr dünn ist.
Lösung Nordisches Modell?
Seit Beginn des Lockdowns werden die Stimmen derer lauter, die auch nach der Corona-Krise Bordelle dauerhaft schließen und den Kauf von Sex verbieten wollen. Vor einigen Tagen hat sich SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach öffentlich dafür ausgesprochen. Nordisches Modell heißt das Konzept, das von Ländern wie Schweden oder Kanada übernommen werden soll. Im März 2021 hat sich dafür auch ein Bündnis gebildet, deren Partner Organisationen wie Terre des Femmes oder die feministische Zeitschrift Emma sind. Die Idee: Freier werden kriminalisiert und bestraft, während Prostituierte sich nicht strafbar machen, gleichzeitig aber durch Programme zum Ausstieg bewegt werden sollen. Das Bündnis sieht das Prostituiertenschutzgesetz als gescheitert an. Zum Welthurentag teilt es laut der Deutschen Presse Agentur mit: „Prostituierte werden in der Öffentlichkeit oft als selbstbestimmt und die Freier als normale Kunden dargestellt. Doch die Realität sieht meist anders aus, viele Frauen sind in einer Zwangslage und schaffen aus Armut an.“
In einer Untersuchung zu Gewalt bei Frauen, die das Bundesfamilienministerium 2013, also noch vor Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes, veröffentlichte, wurde festgestellt, dass 41 Prozent der Frauen körperliche oder sexuelle Gewalt bei der Ausübung ihrer sexuellen Dienste erlebt haben. Dazu haben 43 Prozent der befragten Sexarbeiterinnen in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt. Die Frauen seien vielfach traumatisiert und verstärkt gefährdet, Gewalt im Erwachsenenalter zu erleben. Für die Untersuchung wurden 110 Prostituierte befragt.
Klee: „Verbote bringen nichts“
Wie erfolgreich das Nordische Modell ist, ist umstritten. Einerseits geht die Zahl der Delikte rund um Prostitution seit der Einführung 1998 in Schweden zurück. Andererseits gibt es immer noch Berichte über illegal arbeitende Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Wer recherchiert, sieht, wie uneindeutig auch hier die Faktenlage ist: Es gibt Studien, die eine größere werdende Stigmatisierung von Prostituierten in Schweden und keine Eindämmung der Prostitution durch das Gesetz nachweisen, genauso wie solche, die das Modell als Erfolg werten.
„Prostitution wird in Schweden in die dunkle Ecke gedrängt“, sagt Stephanie Klee. Die Verbote hätten in Schweden und anderen Ländern ihrer Meinung nach nichts gebracht. Ebenso wie bei der temporären Schließung der Bordelle würde Prostitution durch ein Verbot nicht aufhören zu existieren – sie sei dann noch weniger greifbar. Gegnerinnen und Gegner habe es auch vor der Pandemie schon gegeben – doch hätten sie sich während des Lockdowns noch einmal neu organisiert.
„Wir haben nie der Politik vertraut“
„Bei dieser Kampagne merkt man, wie groß die Verachtung in der Gesellschaft für uns ist“, findet die Sexarbeiterin. Prostituierte würden stigmatisiert werden. Zwar sei Prostitution in der Öffentlichkeit beim Straßenstrich noch sichtbar, doch laufe der Rest hinter unauffälligen geschlossenen Türen ab. Das spüre man auch im Umgang mit den Behörden: „Einige sind sehr freundlich, andere setzen ihre Moral durch.“ Sexarbeiterinnen schützten ihr Doppelleben. Auch die Verbände, von denen es drei in Deutschland gibt, hätten nur wenige Mitglieder – beim Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen sind es nur 100 – „eine lächerliche Zahl“. Prostitution ist in Deutschland erst seit 2002 legal: „Wir haben nie der Politik vertraut. Wir haben über die Jahre nie gelernt, uns zusammenzuschließen. Wir sind von den Gesetzen schlecht behandelt worden.“ Prostituierte kämen in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem bei Sex- und Crimeshows vor – mit einzelnen Beispielen.
Was Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern ihrer Meinung nach helfen würde? „Die Bordelle müssen geöffnet werden. Und das Prostituiertenschutzgesetz muss konsequent angewendet werden.“ Erst dann könne die Prostitution aus der Schmuddelecke herauskommen, erst dann könnten Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter wirklich geschützt werden. Erst dann könne mehr Transparenz herrschen. Für sie läuft der Umgang mit Prostitution auf eine Frage hinaus: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“