Er fotografiert Holocaust-Überlebende: „Weinen Sie oft, Herr Toscano?“

Luigi Toscano für Bildern seiner Ausstellung vor dem UN-Gebäude in New York

Luigi Toscano für Bildern seiner Ausstellung vor dem UN-Gebäude in New York

Mannheim. Mit seiner Fotoinstallation „Lest We Forget“ erregt der Mannheimer Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano (47) seit Jahren weltweit Aufmerksamkeit. Mehr als eine Million Besucher sahen seine überlebensgroßen Porträts von Holocaust-Überlebenden auf öffentlichen Plätzen in Berlin, New York, Washington, Boston, Kiew oder Wien. Zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee zeigt er seine Fotos bei der Uno in Genf.

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Sie haben seit 2014 weltweit mehr als 400 Holocaust-Überlebende porträtiert. Wie hat das angefangen?

Damals stellte ich gerade in meiner Heimatstadt Mannheim an einer zentralen Stelle überlebensgroße Porträts von Asylbewerbern aus, gleichzeitig erlebte Deutschland die Ankunft vieler Flüchtlinge. Ich spürte, wie die positive Stimmung in der Gesellschaft kippte und die Ressentiments wuchsen. Rassismus und Antisemitismus zeigten sich. Dagegen wollte ich etwas tun. Ich fragte mich, was Holocaust-Überlebende dazu sagen würden. Das war die Idee.

Und dann?

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Ich habe bei zahlreichen Institutionen angefragt, ob sie mich unterstützen würden. Viele Türen blieben verschlossen. Doch die Mitarbeiter der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Sandhofen halfen mir und luden mich zu einem Treffen mit fünf polnischen Holocaust-Überlebenden ein. Ich habe ihnen mein Projekt erklärt, doch sie blieben skeptisch. Sie wollten etwas sehen. Zu der Zeit hingen noch die Porträts der Asylbewerber an der alten Feuerwache in Mannheim. Alle fünf stiegen in ein Taxi und fuhren da hin. Als sie die Bilder gesehen hatten, waren sie sofort einverstanden.

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Waren Sie bereits vorher Holocaust-Überlebenden begegnet?

Nein, noch nie. Ich war sehr nervös und dachte nur noch: Luigi, warum hast du die Klappe so weit aufgerissen?

Manche Fotografen erzählen einen Witz, um ihr Gegenüber locker zu machen. Geht das mit Holocaust-Überlebenden?

Keine Bange, das geht auch. Aber in den meisten Fällen kommen wir ganz langsam ins Gespräch, ohne Kamera in Sichtweite. Es geht ums gegenseitige Kennenlernen. Das kann schnell gehen oder Stunden dauern. Am Ende dann frage ich, ob wir das Foto machen wollen.

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Luigi Toscano bei den Vorbereitungen des Porträts von Walter Frankenstein.

Luigi Toscano bei den Vorbereitungen des Porträts von Walter Frankenstein.

Die Foto-Situation ist ja schon sehr speziell und erinnert an die Erstellung von Polizeifotos: Sie fotografieren durch einen Lichtkreis, der das Gesicht des Porträtierten frontal ausleuchtet…

Ja, das ist schon eine kleine Hürde. Stimmt. Einer der fünf Polen sagte, als er diese Aufstellung sah, ziemlich trocken: „Das ist ja hier wie bei der Gestapo.“ Mir stockte der Atem. Dann lachten die Männer. Auch heute komme ich noch in Situationen, wo ich am liebsten verschwinden würde.

Wollen Sie es mir erzählen?

Ralph aus Chicago kommt rein, agil und fröhlich. Er erzählt über Gott und die Welt. Lustig. Dann bewundert er meine Tattoos und sagt: „Ich habe auch eines.“ Er krempelt den Ärmel seines Hemdes hoch und zeigt mir seine Auschwitz-Nummer. Das ist schon heftig, aber das kenne ich inzwischen. Ralph lächelt und erzählt weiter: „Luigi, ich habe das Krematorium in Auschwitz gemauert. Darin wurden die Leichen meiner ermordeten Verwandten verbrannt.“ Das ist dann wie ein Knock-Out.

Können Sie noch weinen?

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Ich habe inzwischen gelernt, mich bei der Arbeit vor solchen Knock-Outs zu schützen. Trotzdem: Ich weine oft. Vor allem abends, wenn ich keine Ablenkung habe, denke ich an all das, was mir diese Menschen erzählt haben.

Manche der von Ihnen Porträtierten lächeln in die Kamera, andere schauen ernst oder sogar grimmig. Wie wichtig ist den Holocaust-Überlebenden ihr Gesichtsausdruck auf den Fotos?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich beobachte jedoch, dass die Osteuropäer häufiger einen strengen Gesichtsausdruck aufsetzen. Ich interpretiere das als würdevoll. Die Amerikaner hingegen lächeln eher. Das Eigentliche passiert jedoch in den Augen. Sie schauen so direkt und zeigen Dankbarkeit, Würde, Stolz, Willen. Vielleicht zeigen sie: Ich lebe, ich habe überlebt.

Warum zeigen Sie diese schon ihrer Größe wegen überwältigenden Fotos nur auf öffentlichen Plätzen?

Ins Museum würde dafür kaum jemand gehen. Ich möchte die Leute konfrontieren, provozieren und ihnen zeigen, dass diese Menschen noch da sind und uns etwas zu sagen haben. Vielleicht mache ich es dadurch auch einfacher, indem ich ihnen diese Gesichter vor die Füße stelle.

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Sie haben in Amerika ausgestellt und in Europa. Reagieren die Menschen unterschiedlich auf die Bilder?

In den USA werden die Fotos emotionaler aufgenommen. In der Ukraine entstehen auch Emotionen, die Fotos werden jedoch ehrfurchtsvoller betrachtet.

In Wien gab es im vergangenen Jahr Zwischenfälle. Was ist passiert?

Es fing mit Schmierereien an, Hakenkreuze und Hetzparolen. Dann wurden Bilder aufgeschnitten, Gesichter zerstört. 16 Porträts wurden verstümmelt. Ich war hinüber, wollte einpacken und nach Hause gehen.

Sie blieben in Wien. Warum?

Mich riefen Überlebende an, die sagten: „Luigi, wir haben durchgehalten. Jetzt musst du es.“ Das war wie ein Befehl. Junge Muslime fingen an, gemeinsam mit Christen die Bilder mit Nadel und Faden zu reparieren. Ein Rabbi brachte ihnen Essen. Wiener Bürger hielten 24-Stunden-Mahnwachen an den Bildern. Es war der Wahnsinn. Ich war überwältigt und, ja, auch völlig überfordert. Das war eine unglaubliche Erfahrung, kraftvoll – und es hat unheimlich Mut gemacht.

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Sie sind auch in sozialen Medien unterwegs. Treffen Sie dort auf Hass und Hetze?

Ich bekomme das mit, ja. Meine Hater kann ich jedoch an einer Hand abzählen. Und mit dem Tode bedroht – so wie Politiker – wurde ich auch nicht.

Juden fühlen sich wieder unsicher in Deutschland. Nicht wenige können sich vorstellen, das Land zu verlassen. Was sagen Sie denen?

Dass ich das verstehen kann und sie sich schützen sollen. Jeder von uns wünscht sich doch Sicherheit. Solche Anschläge wie der in Halle tragen dazu bei, Angst zu verbreiten. Ich versuche aber auch zu übermitteln: Glaubt an die Demokratie und daran, dass wir gewinnen werden. Dafür ist es jedoch wichtig, dass wir dem Hass als Mehrheit gegenübertreten. Nicht leise, sondern deutlich vernehmbar.

Der Mannheimer Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano (geb. 1972) fotografiert Holocaust-Überlebende

Der Mannheimer Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano (geb. 1972) fotografiert Holocaust-Überlebende

Ist es ein Zufall, dass Sie sich als Sohn italienischer Gastarbeiter dafür so engagieren, aus der Geschichte zu lernen?

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Ich bin Deutscher – allerdings mit einem zweiten, einem italienischen Pass. Ich spreche deutsch, ich denke deutsch, hier ist meine Heimat. Und für die übernehme ich Verantwortung, als Mensch, als Familienvater und mit klarer Ansage: Was in Deutschland und anderswo in der Nazizeit passiert ist, das darf nie wieder vorkommen.

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