Grüne beschließen neues Grundsatzprogramm: Techniktücken, Bibelzitate und eine Mini-Rebellion

Die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Berlin. Als Jürgen Trittin den Kampf gegen die Technik zu verlieren droht, knallt es in rund 800 Wohn- und Arbeitszimmern quer durch die Republik. Der Grünen-Politiker will am Sonntagvormittag zu einem flammenden Plädoyer gegen Volksentscheide auf Bundesebene ansetzen, doch Trittins Worte verlieren sich im Widerhall seines Rechners. Ein wütendes „Och Mann“ entfährt Trittin, gefolgt von einem wuchtigen Schlag auf den Tisch. Es ist ein selten emotionaler Moment im Laufe dieses ansonsten recht kühlen, weil digitalen Grünen-Parteitags.

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Drei Tage lang haben die Grünen ihr neues, insgesamt viertes Grundsatzprogramm via Onlinekonferenz beraten und beschlossen. Ein rund 60-seitiger Text, der die Leitplanken grüner Politik für die nächsten 15 bis 20 Jahre festlegen soll. „Veränderung schafft Halt“ lautet sein Titel. Er gibt den Anspruch der Grünen wieder, die ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben, ohne dabei Verlierer zu erzeugen. Dafür wollen die Grünen die Öko-Nische hinter sich lassen und stärker als bisher als Partei mit inhaltlichem Vollsortiment auftreten.

Geschlossen nach innen, offen nach außen: Mit dieser Maßgabe gehen die Grünen in das Superwahljahr 2021. Die Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock formulieren in ihren Reden einen Appell zum Zusammenhalt an die Partei.

Habeck treibt den Grünen den Macht-Ekel aus

Bei Habeck klingt das so: „Nie waren die Grünen geschlossener. Unsere Stärke ist von Dauer.“ Er fordert seine Partei zu einem selbstbewussten Bekenntnis zur Macht auf. „Macht – das ist in unserem Kosmos oft ein Igitt-Begriff gewesen. Aber Macht kommt ja von machen“, so Habeck. Und weil das niemanden abschrecken soll, richten die Grünen auch ein Angebot an Bürgerinnen und Bürger, die den Grünen bisher mit Skepsis begegnen.

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„Die Menschen in den Industriestandorten Wolfsburg, Cottbus, Duisburg oder Bitterfeld denken ja nicht weniger an die Zukunft ihrer Kinder”, sagt Baerbock. Habeck kommt auf „die Autobauerin“ zu sprechen, „die fürchtet, in ein paar Jahren auf der Straße zu stehen“. Und auf den „Kohlearbeiter, dessen Tagebau schließt“. Und auf die „“Bauernfamilie, die den Hof aufgibt, weil sie im Wettbewerb des Wachsens” nicht mehr mithalten könne. „Alle diese Menschen verdienen Antworten und Perspektiven, die ihnen Respekt und Würde sichern“, ruft Habeck in die Leere der Halle.

Zuvor versuchte Baerbock mit neutestamentarisch inspiriertem Humor Zweifel an der Grünen-Agenda zu vertreiben. „Für alle, die unser grünes Klimamotto nicht kennen: Fürchtet euch nicht, diese Klimarevolution ist in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag”, sagte sie. „Das Wirtschaftssystem neu aufzustellen bedeutet keinen Umsturz, sondern ist purer Selbstschutz.“ Beide Parteichefs warnen vor einer durch die Pandemie beschleunigten Spaltung der Gesellschaft – und präsentieren die Grünen als einigende, kittende Kraft.

Fridays for Future machen Druck

Doch das Streben „in die Breite der Gesellschaft“ (Habeck) und das Werben um „parlamentarische Mehrheiten“ (Baerbock) geht mit Spannungen einer. So übte die Klimabewegung um Fridays for Future (FFF) großen Druck auf die Parteiführung aus, die Klimaschutzziele scharf und konkret ins Grundsatzprogramm zu verankern. Schärfer noch, als sie das Pariser Klimaschutzabkommen vorschreibt. In spätnächtlichen Verhandlungen mit Basismitgliedern und auch mit Fridays-For-Future-Vertreterinnen fand Baerbock eine einvernehmliche Formulierung. Das 1,5-Grad-Ziel wird nicht als „Maßgabe“ grüner Politik festgeschrieben, wie von FFF gefordert. Dies hätte den Spielraum der Grünen in Koalitionsverhandlungen stark eingeschränkt. Es sei notwendig, „auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen“, heißt es nun.

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Lediglich in einem Punkt verpasste die Basis der Spitze einen Dämpfer. So machen sich die Grünen, anders als im Leitantrag ihrer Spitze vorgesehen, die Forderung nach einer Garantiesicherung zu eigen, die sich an der Leitidee eines bedingungslosen Grundeinkommens orientieren soll. Eine Mini-Rebellion kurz vor Ende des Abstimmungsmarathons am Sonntagnachmittag.

Bei zwei Themen, zu denen im Vorfeld Kontroversen erwartet wurden, setzte sich der Parteivorstand durch. So legen die Grünen ihr pauschales Nein zur Gentechnik ab. Mit Blick auf die globale Ernährungssicherung oder auch die medizinische Forschung öffnen sie sich für neue gentechnische Verfahren. Auch die Forderung eines nicht kleinen Teils der Basis nach Volksentscheiden auf Bundesebene findet keine Mehrheit – nach energischen Reden von Habeck und auch von Trittin, nachdem dieser den Hall an seinem Rechner herunterdrehen konnte.

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