RND-Interview mit Vera Jourova

EU-Kommissarin: „Europa wird kein Wahrheits­ministerium schaffen – wir sind nicht wie Russland“

Vera Jourova, Vizepräsidentin der EU-Kommission, spricht während einer Plenarsitzung im Europäischen Parlament (Archivbild).

Vera Jourova, Vizepräsidentin der EU-Kommission, spricht während einer Plenarsitzung im Europäischen Parlament (Archivbild).

Brüssel. Vera Jourova ist seit 2019 als Vizepräsidentin der EU-Kommission zuständig für Werte und Transparenz. Die 57 Jahre alte Politikerin stammt aus Tschechien.

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Frau Vizepräsidentin, die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich nicht auf ein vollständiges Ölembargo einigen können. Ungarn hat alles bekommen, was es wollte: eine Ausnahmeregelung für Pipelineöl und keine klare zeitliche Begrenzung, wann kein Öl mehr aus der Druschba-Pipeline fließen darf. Was halten Sie von diesem Embargo light?

Ich bin sehr erleichtert, dass das sechste Sanktionspaket endlich angenommen wurde, auch wenn es Zugeständnisse an jene Länder gab, die als Binnenländer nur schwer auf russisches Öl aus der Pipeline verzichten können. Es dürfte für Putin eine Überraschung gewesen sein, wie geeint sich die EU gezeigt hat und wie entschlossen die EU ist, sich seiner grausamen Aggression entgegenzustellen. Die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Solidarität und sie brauchen schwere Waffen. Denn sie kämpfen letztlich auch für uns.

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Liefert Deutschland als größter EU-Mitgliedsstaat genügend Waffen?

Deutschland tut, was es kann. Deutschland hat vor einigen Wochen den Rubikon überquert und engagiert sich nun auch mit Waffen­lieferungen. Das ist mutig und nötig.

Deutschland ist also nicht isoliert?

Deutschland ist innerhalb der EU ganz und gar nicht isoliert. Aber es gehört zu den größten Ländern der EU – und die werden immer genau beobachtet, wenn es um große strategische Entscheidungen geht. Ich bin sehr erleichtert, dass die großen EU-Staaten die Ukraine nicht dazu drängen, einen schmutzigen Frieden mit Putin zu schließen.

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Was sagen Sie den Menschen in Europa, die über rasant gestiegene Preise für Lebensmittel, Benzin und Energie klagen?

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Wir müssen klar sagen, was der Grund dafür ist. Es sind nicht die Sanktionen. Es ist der russische Angriffskrieg, der dazu geführt hat, dass die Inflation steigt und die Menschen verunsichert sind. Wir müssen den Menschen immer wieder versichern, dass wir versuchen, die Probleme zu lösen. Wir haben Notfallpläne. Aber wir können nicht auf magische Weise alles über Nacht lösen. Das müssen wir noch besser kommunizieren.

Können Sie den Menschen in der EU versichern, dass es im nächsten Winter nicht dunkel und bitterkalt in den Wohnungen wird?

Wir dürfen nichts versprechen, was wir nicht erreichen können. Die Menschen anzulügen oder ein rosiges Bild zu zeichnen, wäre ein fataler Fehler. Wir können aber garantieren, dass es genug Energie fürs Heizen geben wird und genügend Lebensmittel. Niedrige Preise für Energie können wir allerdings nicht garantieren. Wir müssen uns also darauf verlassen, dass die Mitgliedsstaaten die Auswirkungen auf jene Menschen, die wenig oder kein Geld haben, abmildern. Aber gleichzeitig müssen wir den Menschen klipp und klar sagen: Bitte helft uns dabei und spart Energie, wo immer es geht.

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Sie werden am Mittwoch bei den Mitteldeutschen Medientagen in Leipzig über Desinformation sprechen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die russische Propaganda­maschinerie die Uneinigkeit der EU in Sachen Ölembargo bejubeln wird. Wie dramatisch ist die Desinformation?

Es ist absolut ungeheuerlich, was der Kreml tut – und das nicht erst seit Kriegsbeginn, sondern schon seit Jahren. Die staatlichen Medien in Russland sind keine Medien mehr, sondern werden vom Kreml wie Waffen eingesetzt. Die Wahrheit wird auf ungeheuerliche Weise auf den Kopf gestellt. Das erinnert mich an den Dieb, der laut ruft: Haltet den Dieb.

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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Was lässt sich dagegen machen?

Wir müssen besser kommunizieren und noch deutlicher machen, dass die gestiegenen Lebensmittel­preise nichts mit den Sanktionen gegen Russland zu tun haben, sondern durch die russische Aggression verursacht wurden. Wir müssen auch die Journalisten, die in der Ukraine arbeiten, besser schützen. Denn wir brauchen Beweise für Kriegsverbrechen in diesem Land. Und wir müssen die naive Haltung aufgeben, dass die Meinungsfreiheit um jeden Preis geschützt werden muss.

Wie meinen Sie das?

Die Meinungsfreiheit ist unser heiliges Prinzip, das wir retten müssen. Aber sie wurde von russischen Propagandisten brutal missbraucht. Es wird nie mehr so sein wie vor dem Krieg. Wir müssen uns vor dieser Propaganda schützen. Das ist auch der Grund, warum wir auch noch nie da gewesene Sanktionen gegen russische Propagandisten verhängt haben. Sie geben nur vor, Medien zu vertreten. Dabei sind sie nichts anderes als willfährige Werkzeuge des Kremls.

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Ursula Von Der Leyen President Of The European Commission At The Press Conference Ursula von der Leyen President of the European Commission held a press conference with Charles Michel President of the European Council while answering questions to the media, after the special EU summit on May 30, 2022, having a blue screen background with the flag of Europe and symbol of the council. Special Meeting of the EU leaders, the European Council in Brussels, Belgium on May 31, 2022 Brussels Belgium PUBLICATIONxNOTxINxFRA Copyright: xNicolasxEconomoux originalFilename: economou-ursulavo220531_np0Uq.jpg

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Sind nicht soziale Netzwerke wie Twitter oder Telegram inzwischen das größere Problem als herkömmliche Medien?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Fest steht, dass Russland den digitalen Raum seit Jahren missbraucht. Deshalb haben wir uns mit den großen digitalen Akteuren darauf geeinigt, dass sie nicht länger tatenlos zusehen. Ich habe Facebook, Google und den anderen Plattformen gesagt, dass sie sich entscheiden müssen, ob sie auf der Seite Putins stehen wollen oder auf der Seite der Menschen, die fliehen oder sogar sterben müssen. Und sie haben sich entschieden.

Sind Sie zufrieden?

Ein Anfang ist gemacht, aber es muss noch mehr passieren. Wir wollen, dass die Internetkonzerne noch intensiver überprüfen, was auf ihren Plattformen geschieht, und das in allen Sprachen der EU. Wir brauchen Daten über die Intensität der Propaganda und den Einsatz von Bots und künstlicher Intelligenz sowie über die Narrative und das Aufkommen neuer Narrative. Wir brauchen die Daten und Informationen, damit die Politiker und die Wissenschaftler die richtigen Maßnahmen und Entscheidungen treffen können. Daran mangelt es uns noch sehr. Aber ich hoffe, dass die Plattformen Mitte Juni den neuen EU-Verhaltenskodex unterzeichnet werden.

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Der Kodex ist aber nur freiwillig.

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Ja, aber dank des neuen Gesetzes über digitale Dienste werden die Regulierungs­behörden prüfen können, ob die Techgiganten den Kodex respektieren. Allerdings darf der Verhaltenskodex nicht von einem Zensor bestimmt werden, sondern sollte ein von selbst funktionierender Mechanismus sein, an dem viele Plattformen, die Medien, die Werbetreibenden und die Zivilgesellschaft beteiligt sind. Wenn wir die Macht, über Wahrheit oder Lüge zu entscheiden, einem einzigen Gremium übertragen, wird es schiefgehen. Die EU wird kein Wahrheits­ministerium schaffen. Wir sind nicht wie Russland.

Putins Krieg hat auch Auswirkungen auf die Rechts­staats­debatte in der EU. Polen zum Beispiel hat mehr als drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Nun wird darüber diskutiert, ob die EU-Kommission in anderen strittigen Fragen nicht besser ein Auge zudrücken sollte. Es geht zum Beispiel um die sogenannte Justizreform in Polen. Was halten Sie davon?

Ein Quidproquo wird es nicht geben, Konzessionen auch nicht. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich werde versuchen, Sie von meinem Konzept der drei parallelen Schienen zu überzeugen.

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Welche sind das?

Zunächst geht es um die Gelder aus dem Corona-Wiederaufbau­fonds, die bislang nicht ausgezahlt wurden, weil Polen die Bedingungen dafür nicht erfüllt hat. Die Kommission wird den polnischen Konjunkturplan in dieser Woche genehmigen. Wenn Polen dann, wie sich jetzt andeutet, die Disziplinarkammer für Richter zurücknimmt, dann sollte das Geld fließen. Die Menschen in Polen haben es verdient, dass die Digitalisierung vorangeht und das Land insgesamt grüner und widerstands­fähiger wird. Aber das wird nicht alle Rechts­staats­probleme in Polen lösen.

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Was geschieht mit den Vertrags­verletzungs­verfahren, weil sich Polen nicht mehr an bestimmte Urteile des Europäischen Gerichtshofs gebunden fühlt?

Diese Vertrags­verletzungs­verfahren gehen selbstverständlich weiter. Die EU-Kommission ist Hüterin der Verträge und damit verpflichtet, gegen mutmaßliche Verstöße vorzugehen. Und hinter der Unabhängigkeit der Justiz in Polen gibt es große Fragezeichen. Zum Beispiel können Richter doch nicht unabhängig sein, wenn sie vom Nationalrat der Justiz ernannt werden, der selbst nicht unabhängig von der Regierung ist.

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Und wie will die EU-Kommission Polen bei der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine helfen?

Es geht nicht nur um Polen, sondern auch um Estland und Tschechien. Diese Länder haben die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Ich plädiere dafür, diesen Ländern frisches Geld zur Verfügung zu stellen, um die Geflüchteten besser versorgen zu können. Griechenland hat während der Flüchtlings­bewegung der Jahre 2015 und 2016 auch Geld bekommen. Das sollte auch heute möglich sein, zumal es um viel mehr Menschen geht als vor sieben Jahren.

Es scheint, dass sich das Verhältnis zwischen EU-Kommission und Polen verbessert hat. Wie sieht es mit Ungarn aus?

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Ich bin enttäuscht vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Er verbreitert den Graben zwischen Budapest und Brüssel immer weiter und wirft der Kommission vor, eine Art ideologischen Krieg gegen Ungarn zu führen. Doch das ist ein fatales Missverständnis. Wir führen keinen Krieg gegen Ungarn. Aber Orban muss einfach akzeptieren, dass es in der EU darum geht, die Regeln zu befolgen. Deshalb haben wir jetzt den sogenannten Rechts­staats­mechanismus gegen Ungarn in Gang gebracht. Das kann dazu führen, dass Ungarn weniger Geld aus Brüssel bekommt.

Offenbar sind die Menschen in Ungarn aber ganz zufrieden mit Orban. Schließlich haben sie ihn vor ein paar Wochen mit großer Mehrheit wiedergewählt.

Das werde ich auch nie infrage stellen. Es gibt zwar Hinweise, dass im Wahlkampf nicht alles sauber gelaufen ist. Doch solange es keine klaren Beweise dafür gibt, werde ich den Willen der ungarischen Wählerinnen und Wähler selbstverständlich akzeptieren.

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