„Irrweg“ und „absolut unwirtschaftlich“: EU-Vorstoß zur Atomkraft löst scharfe Kritik aus
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Dampf steigt aus den Kühltürmen des Atomkraftwerks Grohnde auf (Langzeitbelichtung). Das Werk ist gerade abgeschalten worden.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Stuttgart. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch hat sich strikt gegen Investitionen in neue Atomkraftwerke in der Europäischen Union ausgesprochen. „Deutschland sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, um auf europäischer Ebene eine Förderung dieser Technologie zu verhindern“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Die EU-Kommission will nach einem am Samstag bekanntgewordenen Vorschlag Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich einstufen.
Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) hatte auf Twitter angekündigt: „Sollten diese Pläne so umgesetzt werden, werden wir klagen.“ Auf die Frage, ob sich Deutschland einer möglichen Klage Österreichs anschließen solle, sagte Miersch, man setze auf Diskussionen und Verhandlungen.
Kritik an Atomkraft: „absolut unwirtschaftlich“
„Atomkraft ist nicht nachhaltig und absolut unwirtschaftlich“, sagte Miersch. Leider seien auch Teile der Klimabewegung viel zu unkritisch gegenüber dieser Technologie. „Neue AKW-Projekte sind ohne massive Subventionen überhaupt nicht finanzierbar.“ Das gelte auch für die Folgekosten der Endlagerung, sagte Miersch.
„Die Zukunft darf nur den Erneuerbaren gehören - vor allem auch auf Ebene der EU“, sagte der SPD-Politiker. „Wenn jetzt noch eine Förderung von Atomkraft neben der CO2-Bepreisung hinzukäme, wäre eine massive Wettbewerbsverzerrung die Folge. Vielmehr brauchen wir eine Debatte zur analogen Bepreisung der Atomkraft.“
Umweltministerin Walka: „Irrweg“
Auch Baden-Württembergs Umweltministerin Thekla Walker hat den Vorstoß der EU-Kommission kritisiert. „Das ist ein absoluter Irrweg - wirtschaftspolitisch, energiepolitisch und klimapolitisch“, teilte die Grünen-Ministerin am Sonntag in Stuttgart mit.
Kernkraft sei und bleibe gefährlich. Zudem sei es die teuerste Option von allen und ein jahrzehntelanges Unterfangen, teilte Walker mit. Sämtliche Anstrengungen und Investitionen für die Energieversorgung der Zukunft müssten stattdessen in die Erneuerbaren Energien gehen.
Während Gas noch als sehr kurzfristige Übergangstechnologie gelten könne, könnten die Jahrmillionen lang strahlenden Hinterlassenschaften der Atomenergie nie und nimmer als nachhaltig gelten, so die Grünen-Politikerin. „Es ist unglaublich, was die EU hier unseren Nachkommen zumuten will: immer mehr Atommüll, für dessen sichere Entsorgung es auch nach Jahrzehnten der Suche noch keine Lösung gibt.“
„Greenwashing“ bei der Atomkraft
Der umwelt- und energiepolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Raimund Haser, teilte am Sonntag mit, nur empört zu sein reiche nicht. Die neue Bundesregierung müsse alles dafür tun, das „Greenwashing“ bei der Atomkraft in der EU-Taxonomie zu verhindern. Gerade für den Standort Baden-Württemberg in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankreich sei diese Frage in energieintensiven Branchen existenziell, teilte der CDU-Politiker mit.
Die rot-grün-gelbe Bundesregierung hat mitgeteilt, dass sie den EU-Plänen nicht zustimmen will, womit diese aber voraussichtlich nicht verhindern werden. Einer Klageankündigung Österreichs hat sich Berlin bisher nicht angeschlossen.
Die EU-Kommission will Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter Auflagen als klimafreundlich einstufen, wie aus dem Entwurf für einen Rechtsakt der Brüsseler Behörde hervorgeht, der am Neujahrstag öffentlich wurde. Konkret sieht der Vorschlag vor, dass vor allem in Frankreich geplante Investitionen in neue Akw als grün klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten Technikstandards entsprechen und ein konkreter Plan für eine Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle spätestens 2050 vorgelegt wird.
Lindner lobt EU-Vorstoß zur Förderung moderner Gaskraftwerke
Bundesfinanzminister Christian Lindner bewertet die Pläne der EU-Kommission zur indirekten Förderung moderner Gaskraftwerke grundsätzlich positiv. Deutlich zurückhaltender reagierte der FDP-Vorsitzende am Sonntag aber auf den Brüsseler Vorstoß, auch Investitionen in die Atomenergie als „grün“ anzuerkennen. „Dass die Bundesregierung zum Thema Kernenergie eine andere Auffassung vertritt als die Kommission, ist bekannt“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“.
Konkret sehen die Pläne der EU-Kommission vor, dass in Ländern wie Frankreich, Polen und den Niederlanden geplante Investitionen in neue Kernkraftwerke als nachhaltig klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten Technik-Standards entsprechen und ein konkreter Plan für eine Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle spätestens 2050 vorgelegt wird. Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen insbesondere auf Wunsch Deutschlands ebenfalls als nachhaltig eingestuft werden können.
„Deutschland benötigt realistischerweise moderne Gaskraftwerke als Übergangstechnologie, weil wir auf Kohle und Kernkraft verzichten“, sagte Lindner. „In der Perspektive der Klimaneutralität sollen die Anlagen später mit Wasserstoff genutzt werden können.“ Deshalb habe die Bundesregierung dafür geworben, dass die entsprechenden Investitionen effektiv möglich seien. „Ich bin dankbar dafür, dass von der Kommission offenbar Argumente aufgegriffen wurden“, so der FDP-Chef. „Weitere Verbesserungen wären aus unserer Sicht denkbar.“ Wenn die Transformation gelingen solle, seien investitionsfreundliche Rahmenbedingungen nötig.
Energiewirtschaft begrüßt Brüsseler Pläne zu neuen Gaskraftwerken
Vertreter der deutschen Energiewirtschaft haben den Vorstoß der EU-Kommission zur Einstufung von Investitionen in moderne Gaskraftwerke als klimafreundlich begrüßt. „Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt“, kommentierte der Hauptgeschäftsführer des Stadtwerkeverbands, Ingbert Liebing. Gerade in Deutschland werde man neue Gaskraftwerke brauchen, „die den Ausbau der witterungsabhängigen Erneuerbaren Energien absichern, Versorgungssicherheit gewährleisten und zugleich die Voraussetzung schaffen, fossile Gase durch Wasserstoff zu ersetzen“.
Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) äußerte sich ähnlich. „Investitionen in wasserstofffähige Gaskraftwerke sind zwingend notwendig für den Übergang in eine vollständig klimaneutrale Energieversorgung in der Europäischen Union“, erklärte die Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung, Kerstin Andreae. Um die Versorgungssicherheit sicherzustellen, benötige man noch eine zeitlang Erdgas und dauerhaft Gaskraftwerke.
Der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup, wies zudem auf die geplanten strengen Vorgaben für den Neubau von Gaskraftwerken hin. Diese könnten nur von den effizientesten Anlagen erfüllt werden, was im Sinne der Energiewende und des Klimaschutzes sei, sagte er.
RND/dpa