Justizreform in Israel

„Ich kann nicht einfach zu Hause bleiben“: Zehntausende protestieren gegen Netanjahu

Tel Aviv, 28. Januar: Israelis protestieren gegen die geplante Justizreform der neuen Regierung von Premierminister Netanjahu.

Tel Aviv, 28. Januar: Israelis protestieren gegen die geplante Justizreform der neuen Regierung von Premierminister Netanjahu.

„Demokratie! Demokratie!“, ruft die Menge. Über die Tel Aviver Kaplanstraße schwappt ein weiß-blaues Fahnenmeer. Unzählige tragen israelische Nationalflaggen auf einer der größten Demonstrationen seit Langem. Einige haben ein altes Chanukka-Lied angestimmt: „Banu choshech legaresh“ – „Wir sind gekommen, die Dunkelheit zu verbannen!“ Die Dunkelheit – das ist für viele hier die geplante Justizreform der neuen israelischen Regierung.

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Seit vier Wochen protestieren in Israel Zehntausende jeden Samstagabend gegen die Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Vor allem säkulare Israelis fürchten, dass die Regierung mit ihren ultrareligiösen und rechtsextremen Parteien das Gesicht des Landes unumkehrbar verändern wird. Am Samstag demonstrierten israelischen Medienangaben zufolge allein in Tel Aviv mehr als 40.000, in Haifa waren es über 13.000, in Jerusalem mehrere Hundert.

Wohl wegen Terror weniger Teilnehmer

Dass weniger Menschen auf der Straße waren als vergangene Woche – damals wurde die Teilnehmerzahl auf über 130.000, am Samstag auf etwa 60.000 geschätzt –, wird auf die Jerusalemer Terroranschläge am Vorabend zurückgeführt.

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Verletzte bei Angriff in Jerusalem: Blutiger Schlagabtausch geht weiter
28.01.2023, Israel, Jerusalem: Ein israelischer Polizist sichert den Ort eines erneuten Angriffs, einen Tag nach dem tödlichen Terroranschlag nahe einer Synagoge. Laut Polizei hat ein 13-Jähriger einen weiteren Angriff in der Stadt verübt. Der Junge habe zwei Menschen im Stadtteil Silwan durch Schüsse verletzt, hieß es. Es bestehe Terror-Verdacht. Bewaffnete Passanten hätten auf den Jungen geschossen, so die Polizei. Medien berichteten, er sei Palästinenser. Foto: Ilia Yefimovich/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Nach dem Anschlag mit sieben Toten in einer Synagoge in Jerusalem sind bei einem weiteren Vorfall in der Stadt zwei Menschen durch Schüsse verletzt worden.

Am Freitagabend hatte ein palästinensischer Attentäter vor einer Synagoge in der israelischen Siedlung Neve Yaakov in Ostjerusalem sieben Menschen getötet und mehrere verletzt. Polizisten erschossen den Angreifer darauf. Bei einem weiteren Anschlag hatte ein 13-jähriger Palästinenser im Ostjerusalemer Stadtteil Silwan einen Vater und seinen Sohn durch Schüsse schwer verletzt. Die Sicherheitslage war bereits zuvor als verschärft eingestuft worden, nachdem die israelische Armee in Jenin im Westjordanland am Donnerstag neun Palästinenser erschossen hatte. Sieben davon sollen Mitglieder der radikalislamischen Hamas und der Terrorgruppe Islamischer Jihad gewesen sein.

In Tel Aviv gedachten die Demonstranten der Opfer der Jerusalemer Terroranschläge mit einer Schweigeminute. In sozialen Netzwerken und regierungsnahen Medien wurden die Protestmärsche nach den Attentaten dennoch besonders scharf kritisiert.

Unter liberalen und linken Israelis breitet sich gerade Verzweiflung aus.

Lior Livne, Demonstrant

Netanjahu-Regierung will Justiz reformieren

Was viele Israelis derzeit auf die Straße treibt, ist vor allem die geplante Justizreform der Regierung. Unter anderem soll in Zukunft eine Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, Gesetze durchsetzen können, auch wenn diese aus Sicht des Obersten Gerichts gegen das Grundgesetz verstoßen. Justizminister Jariv Levin will auch mehr Mitspracherecht des Parlaments unter anderem bei der Wahl von Richtern.

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„Es ist ein Wendepunkt“, sagt Lior Livne, „das Gefühl, das gerade etwas wirklich Schlimmes passiert. Ich kann im Moment nicht einfach zu Hause bleiben.“ Der 47-jährige Grafikdesigner ist mit seinem Partner Avner Thaler zum wiederholten Mal in diesem Januar auf der Straße, um gegen die neue Regierung zu demonstrieren. „Unter liberalen und linken Israelis breitet sich gerade Verzweiflung aus, aber die Demonstrationen geben uns Hoffnung. Der Hauptgrund, dass ich dabei bin, ist, dass die neue Regierung das Gesicht Israels verändert und die Demokratie verletzt. Das hat auch Auswirkungen auf die Menschenrechte“.

Israel fängt Raketen aus dem Gazastreifen ab und feuert zurück

Der Beschuss erfolgte nach einer israelischen Razzia in Dschenin, bei der mehrere bewaffnete Palästinenser und mindestens ein Zivilist getötet worden waren.

Auch palästinensische Flaggen zu sehen

In das weiß-blaue Fahnenmeer auf der Kaplanstraße mischen sich jedoch auch vereinzelt andere Farben. Einige wenige tragen auch an diesem Samstag palästinensische Flaggen. Weitere Demonstranten halten Schilder mit „Palestinian Lives Matter“ und „It‘s either Democracy or Occupation“ hoch. Viele sind auch mit Regenbogenfahnen zu der Demonstration gekommen.

„Nehmen wir die Rechte von Homosexuellen in Israel“, sagt der 45-jährige Neurologe Thaler, „sie wurden durch Gerichtsbeschlüsse erreicht. Sie können sich ändern. Die Rechte von Minderheiten allgemein wären nicht geschützt.“

Die Autorin und Historikerin Fania Oz-Salzberger war in den letzten Wochen ebenfalls wiederholt auf den Demonstrationen in Tel Aviv und Haifa. „Ich protestiere nicht, weil die Regierung durch und durch rechts ist, sondern vielmehr, weil sie durch und durch korrupt ist“, sagt sie. „Ich protestiere im Namen der Väter und Mütter Israels, die sich gerade im Grab umdrehen.“

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Israel, Amtseinführung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem  Itamar Ben-Gvir, Israel s new Minister of National Security speaks with Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu as Israel s new right-wing government is sworn in at the Knesset, Israel s parliament in Jerusalem on Thursday, December 29, 2022. Netanyahu became the Prime Minister of Israel for the third time. Pool PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY JERX20221229203 AMIRxCOHEN

Wie befürchtet: Israels Regierung entpuppt sich als Bedrohung

Der israelische Minister für Nationale Sicherheit provoziert mit einem Besuch auf dem Tempelberg. Der Außenminister will mehr Rücksicht auf Russland nehmen. Das könnte zu neuen Konflikten und internationaler Isolation führen, kommentiert Markus Decker.

Die 62-jährige Tochter des Schriftstellers Amos Oz, deren Bücher „Israelis in Berlin“ und „Juden und Worte“ auch auf Deutsch erschienen sind, hat in den politischen Debatten Israels immer wieder Stellung bezogen. Die geplante Justizreform sieht sie mit besonderer Sorge. „Wenn die Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft wird, ist das hier kein lebenswertes Land mehr.“

Unter dem Abbild Theodor Herzls auf der Plakatwand an der Kaplanstraße hält Nir Akoka seine sechsjährige Tochter Noga auf dem Arm. „Das Oberste Gericht ist einem hemmungslosen Angriff unverantwortlicher Politiker ausgesetzt“, sagt der 50-jährige Ökonom. Er sieht wie viele andere Israelis, dass die geplante Justizreform vor allem Politikern dienen könnte, ihren Machterhalt zu sichern. „Der große Elefant im Raum ist Netanjahus Prozess“, sagt er. Der Ministerpräsident ist weiter wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt.

Netanjahu will härtere Anti-Terror-Maßnahmen

Am Samstagabend ließ Netanjahu infolge der Jerusalemer Anschläge neue Anti-Terror-Maßnahmen ankündigen. Israelische Bürger sollen künftig schneller an Lizenzen für Schusswaffen kommen. Israel werde auch Schritte unternehmen, „die Siedlungen zu stärken“.

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„Unsere Töchter Rani und Noga stellen viele Fragen“, sagt Nir Akoka. „Wir haben versucht, den Mädchen unsere Geschichte altersgerecht zu vermitteln. Wir haben auch über die Demokratie geredet, über Meinungsfreiheit und die Freiheit, so zu sein, wie man sein möchte. Wir wollen in unserem Land mit all seinen besonderen Werten weiterhin auf der richtigen Seite der Geschichte leben.“

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