„Das hier ist nicht Ungarn“

Wochen der Wut in Israel

Zahlreiche Menschen demonstrieren in Tel Aviv gegen Netanjahus umstrittene Justizreform.

Zahlreiche Menschen demonstrieren in Tel Aviv gegen Netanjahus umstrittene Justizreform.

„Schande! Schande!“, ruft die Menge. Und immer wieder, immer lauter: „Demokratie! Demokratie!“ Erst am Samstagabend waren in der zwölften Woche in Folge Zehntausende Israelis auf die Straße geströmt, um gegen die geplante Justizreform der rechtsreligiösen Regierung Netanjahus zu protestieren. Über Nacht sind sie zurück und wütender als je zuvor.

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Am Sonntagabend gegen 21 Uhr war bekannt geworden, dass Benjamin Netanjahu seinen Verteidigungsminister Joaw Gallant entlassen wird. Als erster ranghoher Likud-Politiker forderte der ehemalige Generalmajor eine Aussetzung der umstrittenen Justizreform. Netanjahu hatte zuvor erneut bekräftigt, sie noch in dieser Woche gegen alle Widerstände durchzupeitschen.

Kaum eine halbe Stunde später zogen Protestierende mit Lautsprechern durch die Straßen Tel Avivs und forderten die Bewohner der Stadt auf, erneut auf die Straße zu gehen. Auch diejenigen, die nicht bereits durch Nachrichtenseiten und die sozialen Medien davon gehört hatten, ließen sich nicht lange bitten. Menschentrauben mit israelischen Flaggen und Protestplakaten zogen in einem nicht endenden Strom in Richtung der Kaplanstraße, wo an den letzten Samstagen die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes stattgefunden hatten. Von dort drängten sie in Richtung des Ayalon Highways, der Hauptverkehrsader im Zentrum Israels.

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Auf den Fahrbahnen entlädt sich der Zorn vieler Israelis

„Bibi, geh nach Hause!“, rufen sie. „Bibi ins Gefängnis!“, antworten Sprechchöre. In den letzten Wochen wurde der Ayalon Highway immer wieder von Gruppen Demonstrierender blockiert. An diesem Abend sind es jedoch Tausende, die auf die Autobahn drängen. Vor den zum Stillstand gekommenen Verkehr schiebt sich innerhalb von Minuten ein Fahnenmeer in Weiß-Blau. Viele schwenken auch Regenbogenflaggen, einzelne rote, schwarze und rosafarbene Fahnen.

Diesmal sind die Protestierenden jedoch nicht nur mit Bannern und Schildern gekommen. Einige schleppen Holzpaletten auf die Fahrbahn und stecken sie in Brand. Auf der Fahrbahn entlädt sich der Zorn vieler Israelis, der sich seit Wochen angestaut hat. Über dem Ayalon Highway steigen bald mehrere dichte Rauchwolken auf. Gruppen von in Rosa gekleideten Trommlern geben seit Wochen den Herzschlag der Demonstranten vor. „Wir haben keine Angst!“, singen sie immer wieder.

Demonstrierende gehen in Israel gegen die umstrittene Justizreform von Premierminister Benjamin Netanjahu auf die Straße: Eine Frau hält bei Protesten ein Schild mit der Aufschrift „Dicktator“ in die Höhe.

Demonstrierende gehen in Israel gegen die umstrittene Justizreform von Premierminister Benjamin Netanjahu auf die Straße: Eine Frau hält bei Protesten ein Schild mit der Aufschrift „Dicktator“ in die Höhe.

Es sind vor allem Jugendliche und Studierende, die sich um die Feuer drängen. Einige tragen Karikaturen Netanjahus auf ihren Schildern. Eine junge Frau hält ein Stück Pappe mit der Aufschrift „Dicktator“ über die Flammen. Andere Konterfeis auf den Protestschildern zeigen Fratzen der rechtsextremen Parteiführer Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Letzterer hatte als einer der Ersten in der Regierung den Rücktritt Galants gefordert. Beide hatten immer wieder entgegen allen Forderungen, in der Justizreform zu einem Kompromiss zu finden, eine harte Durchsetzung der Ziele ihrer radikalen Parteien gefordert, die vor allem in den Siedlungen im Westjordanland unterstützt werden.

Während ein Protestierender einen Holzlattenrost durch die Menschenmenge schleppt und in eines der Feuer wirft, stimmen einige die Nationalhymne an. So lange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem! Auf die Hatikwa folgt ein altes Chanukka-Kinderlied, das in den letzten Wochen zu einem Protestlied der Demonstrierenden geworden ist: Banu choshech legaresh – Wir sind gekommen, die Dunkelheit zu verbannen! Die Dunkelheit – das ist für viele hier längst nicht nur mehr die geplante Justizreform. Sie steht für die gesamte Regierung unter Netanjahu.

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„Israel ist keine Diktatur!“, stimmen die Protestierenden immer wieder an. „Das hier ist nicht Ungarn. Das hier ist nicht Polen. Das hier ist nicht der Iran!“ Währenddessen verfolgen viele auf ihren Smartphones die Nachrichten, die über Newsticker und Whatsapp eingehen. Sämtliche israelische Universitäten – mit Ausnahme der Ariel-Universität im besetzten Westjordanland – sollen am Montag geschlossen bleiben. Die Gewerkschaften kündigen einen Generalstreik an. Am Nachmittag sollen die Protestierenden nach Jerusalem ziehen, um vor der Knesset zu demonstrieren.

Rechte rufen zur Gegenwehr auf

Wenige Stunden später, nachdem Reiterstaffeln und Wasserwerfer die Protestierenden auf den größten Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem auseinandergetrieben haben, legen die Proteste des Dachverbands der Gewerkschaften Histadrut gegen die Justizreform den internationalen Flughafen lahm. Einkaufszentren und Kindergärten werden geschlossen. Viele Hightech-Unternehmen schließen sich an.

Präsident Jizchak Herzog ruft die Regierung zum Einlenken auf. „Um der Einheit, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort zu stoppen.“ „Unsere nationale Sicherheit ist in Gefahr, unsere Wirtschaft bröckelt, unsere Außenbeziehungen sind auf dem tiefsten Stand aller Zeiten“, sagt Oppositionsführer Jair Lapid.

„Heute hören wir auf, still zu sein, heute erwacht die Rechte“, twittert derweil Ben-Gvir. Rechte Gruppen rufen zur Gegenwehr auf. Die linksliberale Tageszeitung „Haaretz“ berichtet, radikale Aktivisten hätten angekündigt, mit „Traktoren, Gewehren, Messern“ kommen zu wollen. Tausende Regierungsanhänger demonstrieren am Abend in Jerusalem.

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Netanjahu will offenbar Justizreformpläne in Israel einfrieren

In Israel spitzt sich die innenpolitische Krise rund um die umstrittene Justizreform weiter zu.

Gegner und Befürworter der sogenannten Reform warten jedoch weiter auf eine Stellungnahme Netanjahus. Der ruft um kurz vor halb drei zum Gewaltverzicht auf, schweigt jedoch zur geplanten Justizreform. „Wir sind Brüder“, twittert er. Nicht nur für die Demonstrierenden, die längst erneut von der Kaplanstraße auf den Ayalon Highway drängen, ist es der blanke Hohn.

Am Abend schließlich lässt Ben-Gvir verlauten, er habe sich mit Netanjahu geeinigt, das Thema erst nach der Parlamentspause im Sommer wieder aufzunehmen. Um kurz nach acht meldete sich dann endlich der Ministerpräsident zu Wort „Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen.“ Die Justizreform wird damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Wenn eine Möglichkeit bestehe, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu verhindern, würde er diesem Zeit einräumen, sagte Netanjahu. Ob die Verschiebung die Protestierenden ruhigstellen wird, bleibt indessen fraglich.

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