Mehrere Hyperschallraketen

Schwerste Angriffswelle seit Langem erschüttert die Ukraine: Was war das Ziel?

Nach dem Raketenangriff auf Kiew steigt Rauch auf.

Nach dem Raketenangriff auf Kiew steigt Rauch auf.

„Es war eine schwere Nacht“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. In den frühen Morgenstunden hat die russische Armee die Ukraine mit einer neuen Angriffswelle überzogen. Im ganzen Land heulten Sirenen, als Russland 81 Raketen und acht Drohnen auf Wohnhäuser und kritische Energie­infrastruktur abfeuerte. Es war ein „massiver Raketenangriff“ in zehn Regionen des Landes, so Selenskyj. Etwa ein Drittel der Marschflugkörper und die Hälfte der Drohnen hat das ukrainische Militär nach eigenen Angaben abgefangen.

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„Wir sehen jetzt wieder eine der massivsten Angriffswellen seit Beginn des Krieges, die nur vergleichbar ist mit den Angriffen im Spätherbst“, sagt Oberst a. D. Wolfgang Richter, langjähriger Militärexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

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Beim Raketenangriff auf Wohnhäuser in der Region Lwiw – nahe der polnischen Grenze – sind mindestens fünf Menschen ums Leben gekommen. In der Region Dnipropetrowsk starb eine weitere Person bei den Angriffen. „Der gezielte Beschuss von ziviler Infrastruktur, weit entfernt von der Frontlinie, ist gezielter Terror gegen die Bevölkerung“, sagt Alexander Graef vom Institut für Friedens­forschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg dem RND. „Die Regierung in Moskau hält das offenbar für notwendig, weil sie an der Front nur schleppend vorankommt.“

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IAEA-Chef Grossi: „Eines Tages wird uns das Glück verlassen“

Vielerorts fiel nach landesweiten russischen Raketenangriffen der Strom aus. Europas größtes AKW wurde über Dieselgeneratoren notversorgt.

In Kiew wurden Einwohner von Explosionen aus dem Schlaf gerissen. Sieben Stunden dauerte der Luftalarm in der Hauptstadt an, so lange wie noch nie seit Beginn des Krieges. Die meisten Angriffe auf die Hauptstadt konnten abgewehrt werden, „Dank deutscher Iris‑T-Raketenabwehr“, so Bürgermeister Vitali Klitschko. Die Energieinfrastruktur sei bei einem Treffer aber beschädigt worden, er sprach zudem von mehreren Verletzten. Bei 40 Prozent der Haushalte in Kiew fiel die Heizung aus.

Hat Russland neue Basen für Luftangriffe aufgebaut?

Landesweit soll Russland nach Angaben der ukrainischen Armee sechs Hyperschallraketen vom Typ Kinschal abgefeuert haben, zum zweiten Mal in diesem Jahr auch auf Kiew. Kinschal-Raketen fliegen mit sehr hoher Geschwindigkeit und in großer Höhe auf die Ziele zu und sind daher viel schwieriger abzufangen als herkömmliche Raketen und Marschflugkörper. Die Flugabwehr der Ukraine hat laut Experte Graef auf diesen weiten Distanzen Defizite. „Drohnen kann die Ukraine, so scheint es, sehr gut abwehren. Gegen Systeme mit größerer Reichweite und Geschwindigkeit wie S‑400 oder Kinschal ist dies für die ukrainische Luftverteidigung wesentlich schwieriger.“

Bei den jüngsten Angriffen wurden Raketen nicht nur vom Schwarzen Meer aus abgeschossen, sondern auch aus nordöstlicher Richtung. Experte Richter glaubt, dass Russland dort neue Basen für Luftangriffe auf Militärstützpunkten errichtet hat. Die Flugabwehr der Ukraine ist nun gezwungen, sich breiter aufzustellen. „Die Abwehr von Angriffen aus deutlich erweiterten Räumen und Richtungen ist viel schwieriger“, sagt Richter dem RND. Durch westliche Waffenlieferungen hätten sich aber auch die ukrainischen Raketen­abwehr­fähigkeiten erheblich verbessert.

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Viele Regionen waren am Donnerstag ohne Strom. Der private Stromversorger DTEK teilte mit, dass drei seiner Kraftwerke getroffen und schwer beschädigt wurden. Zahlreiche weitere Anlagen sind nach Angaben des ukrainischen Energieministers angegriffen worden. Die ukrainische Eisenbahn­gesellschaft meldete ebenfalls Stromausfälle, mehrere Züge konnten nicht wie geplant fahren.

Russland geht es nach Einschätzung von Oberst a. D. Richter jedoch nicht primär darum, die ukrainische Bevölkerung von Strom, Wasser und Fernwärme abzuschneiden. „Vorrangiges Ziel der neuen Angriffe waren die elektrische Infrastruktur und das Transportwesen der Ukraine“, erklärt er. Ohne Strom könne die ukrainische Rüstungsindustrie keine neuen Waffen produzieren und die elektrifizierte Eisenbahn keine Waffen transportieren. Das sei aber zur Verteidigung der schwer umkämpften Stadt Bachmut dringend nötig.

Moskau nennt massive Raketenangriffe auf die Ukraine „Rache für Terrorakte“

In der Nacht hatte Russland die Ukraine landesweit mit Raketen- und Drohnenangriffen überzogen. Angaben aus Kiew zufolge wurden insgesamt 81 Raketen abgefeuert.

„Russland will verhindern oder zumindest verzögern, dass die Ukraine neue Waffen und Ausrüstung an die Front bringt“, verdeutlicht Richter. Gleichzeitig beobachtet er, dass in den letzten Tagen Dutzende Züge mit Kriegsgerät aus Russland in Richtung der Front gefahren sind. „Wir müssen damit rechnen, dass die Russen demnächst eine große Offensive durchführen, die über Bachmut hinausgeht.“ Der Krieg werde nicht nur fortgesetzt, er werde sogar intensiviert, sei nach dieser schweren Angriffswelle klar.

Der Hamburger Militärexperte Graef sieht ebenfalls eine Verbindung zu den Kämpfen um Bachmut. „Zusammen mit dem Vorrücken in Bachmut verdichtet sich der Eindruck, der Kreml wolle die Botschaft senden, dass Russland in der Ukraine auf dem Vormarsch und die ukrainische Armee unter Zugzwang ist.“ Ein vollständiger ukrainischer Rückzug aus Bachmut wäre trotz enormer Verluste ein symbolischer Achtungserfolg, der für Russland sehr wichtig sei. Moskau versuche offensichtlich, durch die Angriffe auf die kritische Infrastruktur den Druck auf die politische Führung der Ukraine weiter zu verstärken.

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Rache für Angriffe in Brjansk?

Russland begründete die Angriffe offiziell als Rache für schwere Gefechte in der russischen Grenzregion Brjansk in der vergangenen Woche. Dort sollen proukrainische Russen unter mysteriösen Umständen eine Person getötet haben. Kiew hatte eine Beteiligung an den Zwischenfällen stets zurückgewiesen.

Wegen des russischen Beschusses war die Stromversorgung im Atomkraftwerk Saporischschja für mehrere Stunden unterbrochen, wie der staatliche Betreiber Enerhoatom mitteilte. Die Anlage sei auf 18 Dieselgeneratoren angewiesen, mit denen sie zehn Tage lang betrieben werden könne. Am Nachmittag ging das AKW wieder ans Stromnetz. IAEA-Chef Rafael Grossi drang erneut darauf, eine Sicherheitszone rund um das Kraftwerk einzurichten. „Eines Tages wird uns das Glück verlassen“, warnte er.

Die Atomanlage wird seit Monaten von russischen Truppen besetzt, immer wieder gibt es Stromausfälle. „Das AKW Saporischschja ist zu einer russischen Massen­vernichtung­waffe geworden, um Millionen Ukrainern mit einer Vergiftung, Verstümmelung oder dem Tod zu drohen“, kritisiert der Osteuropaexperte Andreas Umland vom Stockholm Centre for Eastern European Studies. Die russische Devise laute „Nach mir die Sintflut“.

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Zuletzt hatte es Berichte gegeben, wonach Russland angeblich Raketen und Munition ausgehen würden. Richter und Graef halten diesen Eindruck für falsch. „Die Vorstellung, Russland werde irgendwann die letzten Raketen verfeuern und der Krieg käme dann zum Erliegen, ist nicht realistisch“, sagt IFSH-Experte Graef. Die nationalen Reserven Russlands sieht Oberst a. D. Richter noch längst nicht erschöpft und auch die Resilienz der russischen Rüstungsindustrie sei offenbar höher als von westlichen Experten eingeschätzt. „Wenn es Russland gelingt, auch nur 20 Prozent der gelagerten älteren Kampfpanzer zu reaktivieren, kommt auf die Ukraine eine Angriffswelle zu, die der ersten Phase im Februar letzten Jahres in keiner Weise nachsteht.“


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