Verzweiflung in Afghanistan: Eltern verkaufen ihre eigenen Kinder, weil sie hungern
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Ein afghanisches Mädchen wärmt sich die Hände, während es sich vom Wassertragen ausruht.
© Quelle: Mstyslav Chernov/AP/dpa
Schedai-Lager. In einem Lager für von Dürre und Krieg vertriebene Menschen im Westen Afghanistans kämpft eine Mutter um ihre Tochter. Der Mann von Asis Gul hat das zehnjährige Mädchen als Braut verkauft, ohne seine Frau vorher zu fragen. Ohne das Geld hätte die ganze Familie Hunger leiden müssen, sagte er ihr zur Begründung. Er habe eines der Kinder „opfern“ müssen, um die vier anderen durchbringen zu können.
Die Verzweiflungstat des Mannes ist ein Beispiel dafür, wie dramatisch die Lage für große Teile der afghanischen Bevölkerung geworden ist, seit die Taliban die Herrschaft über das Land an sich gerissen haben. Und sie ist kein Einzelfall. Von Tag zu Tag werde die Lage schlimmer, sagt Asuntha Charles von der Hilfsorganisation World Vision, die in der Nähe der Stadt Herat eine Klinik für Flüchtlinge betreibt. Es sei „herzzerreißend zu sehen, dass Familien bereit sind, Kinder zu verkaufen, um andere Familienmitglieder zu ernähren“.
Chaos und Verzweiflung in Afghanistan
Vor dem chaotischen Umbruch im August war die afghanische Wirtschaft vergleichsweise stabil. Nach dem überstürzten Truppenabzug der USA und anderer Nato-Staaten zeigte sich aber schnell, wie sehr das Land von Unterstützung abhängig geworden war. Als die für ihre Brutalität bekannten Taliban 20 Jahre nach ihrer Entmachtung erneut die Hauptstadt einnahmen, stoppte die internationale Gemeinschaft die Zahlungen und fror afghanisches Vermögen im Ausland ein.
Die Folgen waren für das bereits von Krieg, Dürre und der Coronavirus-Pandemie gebeutelte Land verheerend. Staatsangestellte haben seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen. Diejenigen, die ohnehin schon von Armut betroffen waren, sind nun in vielen Fällen von Hunger bedroht. Nach Angaben von Hilfsorganisationen vor Ort leidet mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter akutem Nahrungsmangel.
Dass Mädchen schon in jungem Alter einem Mann zur Braut versprochen werden, ist in der Region durchaus üblich. Die Familie des künftigen Bräutigams leistet im Rahmen solcher Vereinbarungen oft eine „Vorauszahlung“, auch wenn das Mädchen normalerweise bei den eigenen Eltern bleibt, bis es zumindest etwa 15 Jahre alt ist. In der aktuellen Not erklären sich aber nun immer mehr Familien bereit, ihre Töchter schon deutlich früher herzugeben. Einige versuchen auch, Söhne zu verkaufen.
Die Mutter Gul, die einst im Alter von 15 Jahren selbst verheiratet wurde, will dies aber nicht akzeptieren. Als ihr Mann ihr erzählt habe, dass er die Tochter Kandi verkauft habe, habe ihr „Herz zu schlagen aufgehört“, sagt sie, während die Zehnjährige neben ihr schüchtern unter einem blauen Kopftuch heraufblickt. „In dem Moment habe ich gewünscht, ich könnte sterben. Aber vielleicht wollte Gott nicht, dass ich sterbe.“
Taliban gehen gegen Zwangsehen vor
Gul wandte sich an ihren Bruder und an Dorfältere. Mit deren Hilfe erreichte sie, dass sich die Familie des vorgesehenen Bräutigams zu einer „Scheidung“ bereiterklärte – unter der Bedingung, dass sie die Summe von umgerechnet etwa 1000 Dollar (880 Euro) zurückzahlen würde, die ihr Mann bereits erhalten hatte. Bislang weiß sie allerdings nicht, wo sie dieses Geld herbekommen soll.
Ihr Mann ist inzwischen geflüchtet – womöglich aus Angst vor den Behörden, da die neue Taliban-Regierung Zwangsehen gerade verboten hat. Gul sagt, sie sei sich nicht sicher, wie lange sie die Familie des etwa 21-jährigen Bräutigams hinhalten könne. „Ich bin so verzweifelt. Ich hatte mir gesagt, dass ich mich umbringen würde, wenn ich das Geld für diese Leute nicht aufbringen und meine Tochter nicht an meiner Seite halten kann“, sagt sie. „Aber dann denke ich an die anderen Kinder. Was wird aus ihnen? Wer wird sie ernähren?“
Kein Essen, kein Geld
In einem anderen Teil des Lagers Schedai versucht Hamid Abdullah, Schulden zu begleichen, die er für eine medizinische Behandlung seiner chronisch kranken Frau aufnehmen musste. Bereits vor drei Jahren hatte er eine Vorauszahlung für seine älteste Tochter Hoschran bekommen, die heute sieben Jahre alt ist – zur Vermählung mit einem Mann, der heute 18 ist. Den Rest der vereinbarten Summe wird die Familie, die Hoschran gekauft hat, erst in einigen Jahren zahlen, wenn sie das Mädchen zu sich holen wird.
Weil Abdullah aber schon jetzt dringend noch mehr Geld braucht, will er auch seine zweitälteste Tochter, die sechsjährige Nasia, für etwa 200 bis 300 Dollar verkaufen. „Wir haben nichts zu essen“, sagt er. Und er müsse den Arzt seiner Frau bezahlen, die gerade mit seinem fünften Kind schwanger sei. Die Frau, Bibi Dschan, sagt, sie und ihr Mann hätten keine andere Wahl. „Als wir die Entscheidung getroffen haben, war es, als hätte mir jemand einen Körperteil weggenommen.“
Familie muss achtjährigen Sohn verkaufen
In der benachbarten Provinz Badghis zieht eine andere geflüchtete Familie in Erwägung, ihren achtjährigen Sohn zu verkaufen. „Ich möchte meinen Sohn nicht verkaufen, aber ich muss es“, sagt die Mutter Guldasta. Nachdem die Familie mehrere Tage lang nichts zu essen gehabt habe, habe sie ihrem Mann gesagt, er solle den kleinen Salahuddin zum Basar bringen, um für die anderen Kinder Nahrung kaufen zu können. Der Vater Schakir sagt, er habe bisher gezögert. „Aber jetzt denke ich, dass ich keine andere Wahl habe.“
Während Mädchen in Afghanistan recht häufig verkauft werden, gilt der Verkauf von Jungen als weniger verbreitet. Wenn es geschieht, handelt es sich offenbar meist um Familien ohne eigene Söhne, die einen Säugling kaufen. Guldasta hofft in ihrer Verzweiflung, dass eine solche Familie auch an einem Achtjährigen interessiert sein könnte.
Verzweiflung in Afghanistan ist groß
Angesichts des zunehmenden Hungers besteht die Gefahr, dass immer mehr Afghanen für solche Verzweiflungstaten anfällig werden. Nach Angaben der UN sind etwa 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt. Charles, die bei der Organisation World Vision für Afghanistan zuständig ist, betont, wie dringend Hilfe von außen benötigt werde. „Ich bin froh, dass Zusagen gemacht werden“, sagt sie. Aber es dürfe nicht bei Versprechen bleiben, sondern die Hilfe müsse auch vor Ort bei den Menschen ankommen.
RND/AP