Was Meron Mendel bei der israelischen Armee erlebte: Lehren aus Hebron
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Konfliktgebiet: Hebron im Westjordanland.
© Quelle: Getty Images/iStockphoto
Hannover. 1995 wurde ich zur Grundausbildung ins besetzte Westjordanland geschickt. Wir waren in Hebron stationiert. In dieser Stadt mit etwa 200.000 Einwohnern war es unsere Aufgabe, 500 jüdische Siedler zu verteidigen. Bei meinem Wehrdienst habe ich immer wieder versucht, mein Schularabisch alltagstauglich zu machen – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Und seit ich in Deutschland lebe, wird mein rudimentäres Arabisch immer schlechter. Doch auch falls ich es irgendwann ganz verlernen sollte, werde ich einen Satz niemals vergessen: „Iftach el bab!“ („Tür auf!“) Oft genug musste ich ihn während meines Militärdienstes verwenden, denn zum Alltag der Besatzung gehörte damals die Schikanierung der arabischen Zivilbevölkerung durch nächtliche Hausdurchsuchungen – zu denen die durch viele Kontrollposten eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die allmähliche Verdrängung aus dem eigenen Land durch den Ausbau der jüdischen Siedlungen kam. Besatzung bedeutet Gewalt und Angst.
Während meines Wehrdienstes brachen im September 1996 heftige Unruhen in den Palästinensergebieten aus. Auslöser war die Öffnung eines antiken Tunnels unter der Westmauer der Al-Aksa-Moschee, um den Israelis und Palästinenser schon ewig rangen. Der damalige und heutige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte für den Zugang zu der archäologischen Passage grünes Licht gegeben, was von palästinensischer Seite als Provokation und Eingriff ins arabische Ostjerusalem aufgefasst wurde. Die eigentliche Ursache war aber, dass kurz nach dem Osloer Abkommen alle Friedenshoffnungen verflogen waren. Die neue rechte Regierung war nicht bereit, den Friedensvertrag umzusetzen, und setzte auf eine Kombination aus Hinhaltetaktik und weiterer Besiedlung der besetzten Gebiete.
Mitten in dieser neuen arabischen Protestwelle wurde ich mit meiner Einheit nach Ramallah versetzt. Im Norden der Stadt bezogen wir Posten auf dem Dach einer schönen Villa. Einen Monat lang lebten wir praktisch über einer palästinensischen Familie – einem Arzt, seiner Frau und den drei Kindern. Wir Soldaten nutzten nicht nur das Dach, sondern auch die Toiletten und die Küche der Familie. Unsere surreale Koexistenz zeigte mir deutlich, was Besatzung bedeutet. Wir versuchten, freundlich zur Familie zu sein, und die Hausbewohner versuchten, ihren Alltag normal fortzusetzen, soweit das möglich ist, wenn plötzlich bewaffnete junge Männer in der Küche stehen. Mich beschlich bald das Gefühl, auf der falschen Seite zu sein. Und ich konnte es nicht mehr loswerden. Die Rede von der „humanen Besatzung“ – so die Rhetorik der israelischen Politiker meiner Jugendzeit – gehört bis heute zur großen Lebenslüge vieler Israelis. Die Erfahrung in Ramallah zeigte mir, dass es so etwas nicht geben kann, denn jedes Besatzungsregime funktioniert nur über die Gewalt der Besatzer und die Angst der einheimischen Bevölkerung.
Als wir nach Hebron zurückkehrten, wurde mir zudem vor Augen geführt, dass dort eigentlich die palästinensischen Zivilisten militärischen Schutz benötigten – und zwar vor Gewalt der jüdischen Siedler. Doch wir Soldaten hatten hauptsächlich die Aufgabe, die Siedler gegen palästinensische Angriffe zu verteidigen. Solche Angriffe habe ich zwar auch erlebt. Denn auch in Hebron haben bewaffnete Palästinenser versucht, Anschläge gegen die Siedler zu verüben. Dennoch war es im Alltag häufiger die palästinensische Zivilbevölkerung, die Schutz vor den Siedlern brauchte. Besonders erschreckend war für mich, dass die Siedlerjugend von ihren Eltern ermutigt wurde, arabische Passanten mit Müll, Steinen und Urinbeuteln zu bewerfen. Auf meine Frage hin, erklärte mir mein Vorgesetzter, dass wir gegen diese täglichen Demütigungen nicht viel machen könnten. Weder die Jugendlichen noch ihre Eltern würden dafür bestraft.
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Der gebürtige Israeli Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und Kassel. Der 47-Jährige ist zudem Professor für transnationale Soziale Arbeit.
© Quelle: Swen Pförtner/dpa
In Hebron habe ich auch den heutigen Minister Itamar Ben-Gvir kennengelernt. Ben-Gvir, gleicher Jahrgang wie ich, war wegen rechtsradikaler Aktivitäten ausgemustert worden und lebte in der jüdischen Siedlung innerhalb der arabischen Stadt. Mal warf er mit seinen Freunden Steine vom Dach auf die arabischen Passanten, mal schikanierte er die Straßenverkäufer und sorgte für Tumult auf dem Markt. Wir Soldaten konnten den Provokateur kaum aufhalten, uns beschimpfte er als Nazis und Verräter, bespuckte uns. Über die Jahre hat er seine Arbeitsmethoden verfeinert. Er studierte, wurde Rechtsanwalt und vertrat seine Gesinnungsfreunde, wenn sie wegen Terrors gegen Araber vor Gericht standen. Er ruft nicht mehr „Tod den Arabern“, wie damals in Hebron. Heute sagt er, etwas anschlussfähiger: „Tod den Terroristen.“
Im Wesentlichen hat sich Ben-Gvir aber nicht verändert. Verändert hat sich die israelische Gesellschaft. Wer vor einer Generation als rechtsradikaler Paria galt, ist heute gern gesehener Gast in Talkshows und legitimer Koalitionspartner. Ben-Gvir wird heute als Held auf den Straßen, in Einkaufszentren und sogar in Schulen gefeiert. Kinder bitten um Selfies mit diesem freundlichen Araberhasser.
Mit Ben-Gvir und seinesgleichen waren Gespräche zwecklos. Sein Hass auf Araber und Linke und seine rassistische Ideologie waren schon damals fest zementiert. Deshalb versuchte ich, die Kinder und Teenager mit Argumenten und soldatischer Autorität zu überzeugen. Die jungen Siedler gingen sogar auf die Diskussion ein. Sie fanden es offensichtlich interessant, ihre Ideologie von der Überlegenheit des jüdischen Volkes einem linken jüdischen Soldaten vorzutragen. Und so standen wir manchmal bis in die späten Nachtstunden und diskutierten. Ich hatte oft das Gefühl, mit meinen Argumenten nicht zu ihnen durchzudringen. Immer wieder erinnerte ich mich selbst daran, dass diese jungen Leute gar keine andere Realität als die Besatzung kannten, dass sie von ihren Eltern und Lehrern vom Kindesalter an indoktriniert wurden. Schon damals habe ich mich oft gefragt, ob diese langen Diskussionen völlig umsonst waren.
Einige Jahre später aber, als ich in Haifa studierte, rief mich einer der jungen Siedler aus Hebron an. Unsere Gespräche hätten bei ihm nachgewirkt, erzählte er mir. Er bereue die Art und Weise, wie er damals seine arabischen Nachbarn behandelt habe. Mit 18 hatte er die Siedlung verlassen, den Kontakt mit seiner Familie abgebrochen und wollte nun ein neues Leben anfangen. Das Gespräch mit ihm verschaffte mir Genugtuung. Wenn sich eine Person ändern kann, dachte ich mir, könnte es vielleicht auch bei anderen klappen.
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Erscheint in diesen Tagen: Meron Mendels Buch „Über Israel reden“.
© Quelle: Cover
Meron Mendels Buch „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ (224 Seiten, 22 Euro) erscheint am 9. März bei Kiepenheuer & Witsch.