Mega-Sportevents in Russland, China und Katar: Alles nur Propaganda oder eine echte Chance für Menschenrechte?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EAGF5GHGCJG7ZPVGEFKHAOXBUE.jpg)
Sport und Propaganda hängen eng zusammen.
© Quelle: imago/ULMER Pressebildagentur/Kremlin/dpa/Kay Nietfeld/iStock/RND-Illustration Behrens
„Man hätte dich abtreiben sollen“, hat Nasser Mohammed an den Kopf geworfen bekommen, nachdem er sich öffentlich als schwuler Katarer geoutet hatte. Er ist der Erste und Einzige aus Katar, der öffentlich über seine Homosexualität spricht – und auch das erst seit seiner Flucht in die USA. Denn Schwulen und Lesben drohen in Katar bis zu sieben Jahre Haft und Peitschenhiebe. „Jeden Tag mit der Angst aufzuwachen macht einen fertig“, sagt Mohammed. Frauen werden in der islamischen Diktatur unterdrückt, mehrfach wurden gravierende Menschenrechtsverletzungen angeprangert, Meinungs- und Pressefreiheit existieren nicht. Wer heikle Fragen stellt oder die Herrscher kritisiert, wird verhaftet.
Von alldem soll die Welt nichts erfahren. Modern, trendig und weltoffen – so präsentiert sich das WM-Gastgeberland Katar viel lieber. Es will zum Mekka für die größten Sportevents der Welt werden: Die Olympischen Spiele, Formel-1-Rennen und die Fußball-Weltmeisterschaft sollen hier ihre neue Heimat finden, wenn es nach der autoritär regierenden Monarchenfamilie geht.
Werte sollen auf Gastgeber abfärben
Die Welt zu Gast bei Diktatoren, Despoten und Demokratieverächtern, das ist kein neues Phänomen. Bereits 1936 wollte Adolf Hitler mithilfe der Olympischen Spiele Nazi-Deutschland als überlegene Großmacht inszenieren. Ähnliche Propagandaspiele gab es auch in letzter Zeit. 2008 und 2022 war Olympia zu Gast in China. „Die Spiele waren ein Traum für Chinas Präsident Xi Jinping, aber ein Albtraum für die Menschenrechte“, sagte Human Rights Watch später. Vom olympischen Geist der Völkerverständigung war auch 2014 keine Spur, als die Spiele in Russland stattfanden. Denn nur drei Tage nach Ende der Wettkämpfe überfielen militärische Spezialkräfte der russischen Armee die Krim und besetzten die ukrainische Halbinsel. Vier Jahre später lenkte Putin von den Kämpfen im Donbass mit einer WM „voller Leidenschaft und Emotionen“, wie er es formulierte, ab.
Wenn mit dem Eröffnungsspiel Katar gegen Ecuador die WM beginnt, sollen die bunten Bilder jubelnder Fans und freudestrahlender Fußballer über die gravierenden Missstände des Gastgeberlandes hinwegtäuschen. Eine Propagandastrategie, die in der Wissenschaft gut erforscht ist. Die vom Sport transportierten Werte wie Fairness, Freundschaft und Respekt sollen auf das Image des Gastgeberlandes abfärben und negative Vorstellungen entkräften. Sind die Propagandaspiele ein Erfolg, verändern sie nicht nur die Einstellung der Bürger anderer Länder, sondern auch das Verhalten ihrer Regierungen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen nehmen längst zu: Katar hält Anteile an mindestens sechs Dax-Konzernen und soll ab 2024 LNG-Gas nach Deutschland liefern. Für Katar, das noch vor fünf Jahren Vorwürfen ausgesetzt war, Terrororganisationen wie den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) und Al-Kaida zu unterstützen, ist der Imagewandel dringend nötig. „Katar hat begriffen, dass man sich mit der WM und auch mit anderen großen Sportereignissen einen Namen machen kann“, sagt Sebastian Sons, Experte für den Nahen Osten, „dass man auf der Weltkarte präsent ist, trotz aller Nebengeräusche, trotz aller Kritik.“
Katar nutzt Fußball-WM als Fortschrittsmotor
Das Emirat Katar, ein Land kleiner als Hessen, kauft für sein neues Image hochkarätige Sportveranstaltungen ein. Mehr als 500 internationale Sportveranstaltungen hat Katar in den letzten 15 Jahren ausgerichtet. Ebenso wie in Russland wird der Sport vom Staat gelenkt und kontrolliert. „Hier in Katar organisieren wir die beste WM aller Zeiten“, kündigte Fifa-Präsident Gianni Infantino an, und erklärt den Fußball zum Motor für den Fortschritt. „Alle Veränderungen in Katar in Sachen Menschenrechte, Arbeitsrechte und so weiter hätte es ohne die WM nicht gegeben.“
Eine Öffnung des Landes sieht auch DFB-Generalsekretärin Heike Ullrich, die mehrmals vor dem WM Katar besucht hat. „Wir haben natürlich auch die Frage gestellt, wie gehen sie um mit der LGBTIQ+-Community, und auch hier wurde uns noch mal verdeutlicht und auch bestätigt: Alle sind willkommen in Katar“, sagt sie im Sportausschuss des Bundestags. Es geht dem DFB darum, nicht nur im Hinblick auf die Vorbereitung auf die WM Probleme anzusprechen, „sondern möglichst auch nachhaltig Wirkung zu erzielen“, so Ullrich.
Doch Experten zweifeln, dass es tatsächlich nennenswerte Veränderungen gibt. Bleibt am Ende nur die Propaganda?
Keine Demokratisierung durch sportliche Großveranstaltungen
In einer aktuellen Studie untersucht der Sportökonom Wolfgang Maennig, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Hamburg, die Fortschritte zahlreiche Megasportevents. Sein Fazit ist ernüchternd. „Wir haben mehrere Faktoren wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Arbeitsrechte in den Austragungsländern untersucht und können nicht feststellen, dass Sportgroßveranstaltungen zu einer Verbesserung geführt haben“, sagt der Experte im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Weder in China noch in Russland habe es messbare Veränderungen gegeben.
In Russland hat das für große Enttäuschung gesorgt, berichtet die Moskauer LGBT-Aktivistin Valentina Likhoshva. „Als die WM und die Olympischen Spiele kamen, hatten wir große Hoffnungen“, sagt sie im Gespräch mit dem RND. „Es hat sich aber nichts verändert.“ Ihr Eindruck ist, dass dem Kreml die internationale Kritik während der Sportereignisse ziemlich egal war.
Es ist überambitioniert zu glauben, dass man eine ganze Gesellschaft durch ein Sportereignis verändern könnte.
Wolfgang Maennig,
Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Hamburg
Überrascht ist Experte Maennig davon nicht. „Die Sportfamilie überschätzt, was Sportereignisse leisten können.“ Nicht einmal auf die Wirtschaft des Gastgeberlandes, wie Steuermehreinnahmen, höhere Einkommen und Beschäftigungseffekte, haben Sportgroßevents ihm zufolge einen statistisch messbaren Einfluss. Es liege daher nahe, dass die Effekte auch in anderen Bereichen viel geringer ausfallen als erhofft. Wie sollen 16 Tage Olympische Spiele oder vier Wochen Fußball-WM etwas verändern, was eine Gesellschaft über Jahrzehnte oder länger geprägt hat? „Es ist überambitioniert zu glauben, dass man eine ganze Gesellschaft durch ein Sportereignis verändern könnte.“
Eine Demokratisierung und Liberalisierung durch sportliche Großveranstaltungen, sei es im Fußball oder bei den Olympischen Spielen, finde de facto nicht statt, sagt auch Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. Er kommt zum Schluss, dass „große internationale Sportevents autoritäre Regime im Land stützen und sogar stärken“. Die Sportverbände werden zu „stillen Komplizen“ der Regime.
Langer Kampf gegen Diskriminierung
Doch die katarische Regierung betont öffentlich, auf die Kritik reagiert zu haben. Das an Sklaverei erinnernde Kafala-System, bei dem Arbeiter ihren Chefs regelrecht ausgeliefert sind und ausgebeutet werden, sei beendet worden. Dieser Behauptung widersprechen Menschenrechtsorganisationen aber vehement. „Wir sehen Reformen des Kafala-Systems, wir sehen aber keine Auflösung des Kafala-Systems“, sagt Katja Müller-Fahlbuch von Amnesty International Deutschland im Sportausschuss des Bundestags. Auch die vielen weiteren Missstände seien lange bekannt gewesen und die WM hätte niemals nach Katar vergeben werden dürfen. Diese heftig kritisierte Vergabe ist kein Einzelfall, wie eine frühere Studie von Experte Maennig belegt. Demokratie, Partizipation und Menschenrechte spielen bei der Vergabe von Großevents demnach keine nennenswerte Rolle.
Das ist erstaunlich, denn in Artikel 4 der Fifa-Statuten heißt es, dass jegliche Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand, sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund „unter Androhung der Suspendierung oder des Ausschlusses verboten“ ist.
Lesben- und Schwulenverband fordert Reisewarnung für Katar vor der WM
Die Aussagen des katarischen WM-Botschafters über Homosexuelle seien „verstörend und dennoch keine Überraschung“.
© Quelle: dpa
In Zukunft soll die Vergabe strenger sein, kündigte DFB-Präsident Bernd Neuendorf an. Die WM-Vergabe an ein Land mit problematischen Menschenrechtssituationen wie in Katar oder Russland sei künftig nicht mehr möglich. Er verweist auf eine Menschenrechtsklausel, die sich die Fifa aufgrund des öffentlichen Drucks auferlegt hat. Amnesty International ist skeptisch. „Papier ist geduldig“, sagt Müller-Fahlbuch, und die Vergabepraxis nur so gut, wie sie auch umgesetzt wird.
Die russische Aktivistin Likhoshva will sich die Fußballspiele im Fernsehen nicht anschauen. Das viele Geld für die WM, sagt sie, wäre besser direkt in die Förderung der Menschenrechte oder in Bildungsprogramme für Frauen geflossen. Sie hofft, dass die LGBT-Community in Katar durch die WM eine Chance hat, sichtbarer in der Öffentlichkeit zu werden. „Mit unserem Kampf gegen Diskriminierung und Homophobie werden wir nicht von heute auf morgen erfolgreich sein, aber hoffentlich in einigen Jahren – in Russland wie in Katar.“