Zwischen Putin-Freund und Friedensvermittler: Erdogans widersprüchliche Rolle im Ost-West-Konflikt
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Wollen sich am Donnerstag in Astana treffen: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Kremlchef Wladimir Putin.
© Quelle: Sergei Savostyanov/Pool Sputnik
Erst vergangenen Monat traf der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Kremlchef Wladimir Putin in der usbekischen Hauptstadt Samarkand. An diesem Donnerstag steht schon die nächste Begegnung an, in Astana, der Metropole von Kasachstan. Erdogan will zwischen Russland und der Ukraine vermitteln. Dabei geht es auch um seine eigene politische Zukunft.
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Einen Tag, bevor Erdogan zur Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA) nach Astana aufbrach, richtete der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu einen eindringlichen Appell an Russland und die Ukraine: „So schnell wie möglich“ müsse ein Waffenstillstand im Ukraine-Krieg hergestellt werden, „je früher, desto besser für beide Länder, für uns alle“, sagte Cavusoglu.
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In der kasachischen Hauptstadt wird Erdogan wieder einmal in seiner Lieblingsrolle auftreten, der des Wanderers zwischen den Welten. Einerseits gibt sich der türkische Staatschef als unverzichtbarer Partner in der Nato und pocht auf die EU-Beitrittskandidatur, andererseits liebäugelt er jetzt mit dem Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), einer Art Anti-Nato unter Führung Russlands und Chinas. Erdogan scheint sich in diesen Kreisen besonders wohlzufühlen. Beim jüngsten SCO-Gipfeltreffen im September in Samarkand posierte er lächelnd mit Diktatoren wie dem weißrussischen Machthaber Lukaschenko und dem iranischen Präsidenten Raisi, der gerade in seinem Land Frauenproteste brutal niederknüppeln lässt.
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Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin bei ihrem letzten Treffen in Samarkand.
© Quelle: Alexandr Demyanchuk/Pool Sputnik
Erdogan ist Putins Mann in der Nato
Besonders gut versteht sich Erdogan mit Putin. Beide Männer kennen sich gut, sie ticken ähnlich und respektieren einander. Putin braucht Erdogan als „seinen Mann“ in der Nato. Dort blockiert der türkische Staatschef seit Monaten die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Allianz. Wichtig ist die Türkei für Putin auch als eine der letzten Brücken zum Westen. Erdogan lehnt nicht nur als einziger Regierungschef in der Nato die Sanktionen des Westens gegen Russland ab, die Türkei unterläuft die Strafmaßnahmen auch. Sie springt ein, wo es sanktionsbedingt Lieferausfälle westlicher Firmen gibt.
Auch Erdogan braucht Russland. Bei seinen Militäroperationen gegen die Kurden in Nordsyrien ist er auf die Duldung Putins angewiesen. Russland deckt 40 Prozent des türkischen Erdgasbedarfs und mehr als ein Viertel der Öleinfuhren. Der russische Staatskonzern Rosatom baut an der Mittelmeerküste das erste Kernkraftwerk der Türkei, einen zweiten Atommeiler soll Rosatom am Schwarzen Meer bauen. Russische Touristen stellen die zweitgrößte Urlaubernation in der Türkei nach den Deutschen. 2021 kamen 70 Prozent der türkischen Getreideimporte aus Russland. Vor allem das bewog Erdogan, sich im Juli als Vermittler bei den Bemühungen um ukrainische Getreideexporte ins Zeug zu legen, denn damit wurden zugleich die Ausfuhrbeschränkungen für russisches Getreide aufgehoben.
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© Quelle: dpa
Vermeintlicher Friedensstifter droht Griechenland mit Krieg
Ob es Erdogan nun gelingt, einen Waffenstillstand in der Ukraine zu vermitteln, ist zwar sehr fraglich, aber immerhin ist er der letzte westliche Staats- und Regierungschef, dem man einen gewissen Einfluss auf Putin zutraut. Das ist der Grund, warum die Nato-Partner bisher über seine Extratouren hinwegsehen.
Aber es ist eine riskante Gratwanderung. Erdogan stellt mit seiner schizophrenen Politik die Geduld seiner Verbündeten auf eine harte Probe. Das Zähneknirschen wird lauter. In Russlands Krieg gegen die Ukraine gibt er sich als Friedensstifter. Aber zugleich überzieht er den Nachbarn und Nato-Partner Griechenland im Streit um den völkerrechtlichen Status der Ägäisinseln mit unverhohlenen Kriegsdrohungen. „Wir können plötzlich über Nacht kommen“, drohte Erdogan den Griechen bei der Gründungsveranstaltung der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag. Er fordert von Russland, die Krim und die anderen besetzten Gebiete der Ostukraine „ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben“. Aber wie glaubwürdig klingt das aus dem Mund eines Staatschefs, dessen Land den Norden des EU-Staates Zypern und große Teile Nordsyriens militärisch besetzt hält?
Erdogan will seine Macht retten
Erst im Frühjahr hatte Erdogan alle politischen Kontakte zu Athen abgebrochen und erklärt, der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis existiere für ihn nicht mehr. „Mit Griechenland gibt es für uns nichts zu diskutieren“, bekräftigte Erdogan in Prag. Im gleichen Atemzug appellierte er an die EU, die Regierung in Athen zu bilateralen Verhandlungen mit der Türkei zu drängen.
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„Ich will meine Geliebten verteidigen, wenn wir angegriffen werden“
Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine spielt die Frage der Landesverteidigung wieder eine größere Rolle. Doch dafür braucht man Nachwuchs: In den Karrierecentern werden die nächsten Soldatinnen und Soldaten gesucht. Doch was motiviert junge Leute, sich heute freiwillig zu verpflichten?
So wirr und widersprüchlich Erdogans Politik auf den ersten Blick erscheint, hat sie doch einen gemeinsamen Nenner: Der türkische Staatschef versucht, seine politische Zukunft zu retten. Erstmals seit seinem Amtsantritt vor 20 Jahren muss er bei den im kommenden Juni fälligen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um den Machterhalt fürchten. Setzt er die Sanktionen des Westens um und kappt die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, droht der schwer angeschlagenen türkischen Wirtschaft der Zusammenbruch. Die Inflation erreichte im September 83 Prozent. Und wahrscheinlich sind die offiziellen Zahlen sogar geschönt. Unabhängige Ökonomen beziffern die Teuerungsrate auf 186,3 Prozent.
Mit seiner Rolle als Friedensstifter im Ukraine-Konflikt will Erdogan ebenso von der Wirtschaftskrise ablenken wie mit dem Säbelrasseln im Mittelmeer. Politische Beobachter schließen nicht aus, dass er dafür sogar eine militärische Konfrontation mit Griechenland riskieren würde. Sie könnte ihm dem Vorwand liefern, die Wahlen abzusagen.