Tourismusboykott: Können Reisen ein politisches Zeichen setzen?

Touristen am Strand von Antalya. Der Türkeitourismus brach 2016 und 2017 ein, weil viele Reisende das Land boykottierten.

Touristen am Strand von Antalya. Der Türkei-Tourismus brach 2016 und 2017 ein, weil viele Reisende das Land boykottierten.

Aus Ungarn kamen dieser Tage zwei Signale. Das eine ist ein Signal der Offenheit: Das Land öffnet seine Grenzen und lässt jetzt wieder Menschen aus allen Schengen-Staaten über den Landweg einreisen. Ohne Test, ohne Quarantäne oder sonstige Einschränkungen. Und auch wenn touristische Hotelaufenthalte laut Angaben des Auswärtigen Amts bislang noch verboten sind, so ist eine Reise nach Ungarn schon jetzt möglich, etwa für das EM-Achtelfinale in Budapest am Sonntag. Doch ganz gleich, ob für ein Fußballspiel oder doch für einen Urlaub am Plattensee oder in der Puszta – viele Menschen stellen sich wohl die Frage: Hinfahren oder nicht hinfahren?

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Denn das zweite Signal ist eines der Abgrenzung, und zwar von den Werten der Europäischen Union: Mit einem umstrittenen Gesetz hat Ministerpräsident Viktor Orbán homo- und transsexuelle Menschen praktisch aus dem öffentlichen Leben verbannt. Bereits in der Vergangenheit stand Ungarn immer wieder in der Kritik – etwa weil es die Pressefreiheit einschränkt und Stacheldrahtzäune gegen Flüchtlinge bauen lässt.

Ist Urlaub in einem Land, das sich gegen Menschenrechte stellt, ethisch vertretbar?

Ist das ein Land, in dem man noch Urlaub machen sollte? Der ist zwar im EU-Vergleich ziemlich günstig, und Reisende können wunderschöne Landschaften entdecken und gastfreundliche Menschen treffen. Aber: Mit dem Tourismus, einem wichtigen Devisenbringer, wird das Land wirtschaftlich unterstützt, also indirekt auch die Politik. Dann doch lieber als Touristin oder Tourist ein Zeichen setzen – und das Urlaubsziel boykottieren? Reisen ist schließlich eine Konsumentscheidung, und der bewusste Verzicht darauf vermutlich das stärkste Signal, das Einzelpersonen in ein Land senden können, in dem sie selbst nicht wahlberechtigt sind.

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Tourismusboykotte gegenüber Ländern, in denen etwa Menschenrechte systematisch verletzt werden, gab es in der Vergangenheit häufiger. So rief Anfang der 2010er-Jahre Aung San Suu Kyi aus dem Hausarrest dazu auf, Myanmar nicht zu bereisen. In Zeiten der Apartheid kamen Boykottaufrufe aus der Opposition in Südafrika, die damit eine politische Strategie zur Veränderung verfolgte. Auch Dubai und die Vereinigten Arabischen Emirate sind für manche Menschen schillernde Reiseziele, für andere aufgrund des brutalen Regimes von Muhammad bin Raschid Al Maktum das genaue Gegenteil davon.

Wegen Erdogan: Tourismus in der Türkei bricht 2016 ein

„Der Türkei-Tourismus erlebte 2016 und 2017 einen starken Abschwung, weil viele Menschen Abstand nahmen von einer Reise in das Land. Mit einem national und international stark umstrittenen Verfassungsreferendum sicherte sich Präsident Erdogan damals mehr Machtbefugnisse“, sagt Antje Monshausen, Leiterin der Arbeitsstelle Tourism Watch und Referentin für Tourismus und Entwicklung, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). In Deutschland rief damals etwa die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, zum Reiseboykott auf. 2016 zählte die Türkei nur noch knapp vier Millionen deutsche Urlaubende in die Türkei, fast zwei Millionen weniger als 2015. Die Umsätze in der Tourismusbranche brachen in dem Jahr, in dem zusätzlich ein Terroranschlag in Istanbul verübt wurde, um mehr als 40 Prozent ein.

Wahl des Urlaubsziels: Preis siegt über Moral

Ab 2018 hat sich auch der Tourismus in der Türkei wieder erholt – allerdings nicht, weil sich durch das Fernbleiben der Reisenden die politische Situation gebessert hätte, sondern durch starke Preissenkungen und den zunehmenden Verfall der türkischen Währung Lira. Untersuchungen der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen haben gezeigt, dass Menschenrechtsverletzungen von vielen Touristinnen und Touristen zwar wahrgenommen werden, jedoch nur bei einer Minderheit die Entscheidung für oder gegen ein Reiseziel beeinflussen. Bei drei von vier Reisenden ist das Preis-Leistungs-Verhältnis ausschlaggebend.

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Allerdings müssten sich Touristinnen und Touristen laut Monshausen auch bewusst sein, dass die Reise in ein bestimmtes Land immer auch eine stabilisierende Wirkung auf die bestehenden politischen Verhältnisse habe: „Der Staatsapparat verdient durch Einreisegebühren und Steuern und kann durch viele schöne Reisebilder sein Image in der Welt verbessern.“ Reisende bewirken also etwas, indem sie in ein Land reisen – gleichzeitig falle die Wirkung durch das Meiden eines Urlaubsziels insgesamt geringer aus, so die Expertin. „Es hängt vor allem davon ab, ob sich daraus eine große Bewegung ergibt und viele auf Reisen verzichten oder zum Beispiel Reiseveranstalter ein Land aus dem Programm nehmen.“

Reiseboykott trifft Millionen Menschen im Tourismussektor

Ein Boykott erzielt aber in der Regel nicht nur eine geringe politische Wirkung, sondern schadet auch den Menschen, die vom Tourismus abhängig sind. „Weltweit leben über 100 Millionen Menschen direkt oder indirekt von den Reisenden“, erklärt eine Sprecherin des Deutschen Reiseverbands (DRV) gegenüber dem RND. „Diese sind aktuell durch die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängenden erschwerten Reisemöglichkeiten in wirtschaftliche Bedrängnis geraten und wissen teilweise nicht mehr, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Armut und Kriminalität nehmen zu.“

Zusätzlich würden sich gerade Touristikerinnen und Touristiker oftmals klar gegen die umstrittenen Machthaber positionieren, erklärt Antje Monshausen von Tourism Watch. Viele von ihnen betrachteten die nationale Politik in der Türkei derzeit mit großer Sorge, in den Tourismushochburgen sei die Ablehnung des Verfassungsreferendums besonders hoch gewesen.

Gay and Lesbian Travel Association: offener Dialog statt Reiseboykott

Von Tourismusboykotten raten Monshausen, viele weitere Fachleute und Organisationen ab. Auch etwa der größte schwul-lesbische Tourismusverband, die International Gay and Lesbian Travel Association (IGLTA), spricht sich laut eigenen Angaben klar dagegen aus, Urlaubsländer zu ächten: Ein Wandel sei nur durch einen offenen Dialog und Kommunikation, nicht aber durch Isolation möglich.

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Denn: Reisen verbindet Menschen miteinander. Reisen erweitert den Horizont. Es trägt dazu bei, Vorurteile abzubauen, und kann auch dadurch etwas bewirken. So weist der DRV darauf hin, dass viele deutsche Urlauberinnen und Urlauber nicht nur aufgrund der All-inclusive-Angebote oder des Preis-Leistungs-Verhältnisses in die Türkei reisen – sondern auch von „der herzlichen Gastfreundschaft“ überzeugt seien. Aktuell befinde sich die Türkei auf Platz drei der beliebtesten Sommerurlaubsziele, hinter Spanien und Griechenland.

Offener Dialog im Urlaubsland: Auf die Art des Reisens kommt es an

Auch Antje Monshausen von Tourism Watch sieht im Tourismus eine Chance: „Wenn es in einem Land möglich ist, mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen, sich frei zu bewegen und sich selbst eine Meinung zu bilden, kann eine Reise zu Verständnis und internationalem Austausch beitragen.“ Es gebe jedoch ein Land, bei dem vom Tourismus generell nur das Regime, nicht aber die Bevölkerung profitiere: Nordkorea. Dort sind Reisen nur in Begleitung von Mitarbeitenden der Ministerien möglich, selbstbestimmte Kontakte vor Ort werden unterbunden.

Bei Urlaub im Ressorthotel, bei dem die wirtschaftlichen Impulse vor allem im Hotel blieben, nicht aber breiter bei der Bevölkerung ankämen, sei ein Dialog laut Monshausen allerdings ebenfalls kaum möglich. Sie plädiert deshalb dafür, bewusste Reiseentscheidungen zu treffen: „Die Frage ist weniger, wohin man reist, sondern wie.“ So weist auch etwa die Organisation „Fair unterwegs“ darauf hin, dass Urlauberinnen und Urlauber gezielt Reiseanbieter und Destinationen wählen können, die eine Menschenrechtspolicy verfolgen und aktiv dazu beitragen, dass die Rechte der Einheimischen gewahrt werden.

Entspannt am Strand, während nebenan gefoltert wird

Die Wahl des Reiseziels habe aber, gerade bei streitbaren Ländern, nicht nur eine politische, sondern auch eine psychologische Komponente, erklärt Marie-Luise Raters, Dozentin für Ethik an der Universität Potsdam. „Beim Urlaub geht es darum, sich wohlfühlen und entspannen zu können“, sagt sie. Reisende könnten sich aber zynisch und unwohl dabei fühlen, in einem Land Urlaub zu machen, in dem andere unterdrückt, gefoltert werden oder Hunger leiden. „Zum Vergleich: Ich könnte auch kein Fünf-Gänge-Menü genießen, wenn nebenan ein Mensch sitzt, der hungert.“

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