Was Sie über die Entwicklung der Gaspreise wissen sollten
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Eine Hochspannungsleitung zeichnet sich vor dem vom Sonnenaufgang verfärbten Morgenhimmel ab.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Frankfurt am Main. Im Großhandel vollführen die Erdgaspreise seit Monaten eine bislang nie dagewesene Berg- und Talfahrt. Wir erläutern, woher die massiven Schwankungen kommen und was sie für die Verbraucher bedeuten.
Wie haben sich die Gaspreise im Großhandel verändert?
Die Entwicklung war in den vergangenen Monaten dramatisch. Der für Europa maßgebliche Preis (Dutch TTF) ist im August auf knapp 350 Euro pro Megawattstunde gestiegen. Am Dienstagvormittag waren es zeitweise nur noch 92 Euro. Dabei geht es jeweils um Lieferungen im Folgemonat. Das ist der wichtigste Orientierungspunkt für den europäischen Gasmarkt. Die aktuellen Notierungen sind aber immer noch mehr als doppelt so hoch wie vor einem Jahr.
Was hat diese massiven Ausschläge ausgelöst?
Hauptursache waren die russischen Vergeltungsmaßnahmen wegen Wirtschaftssanktionen. Das Staatsmonopolist Gazprom hatte die Lieferungen über die Nord Stream 1-Pipeline zunächst reduziert und Ende August komplett eingestellt. Der Verbrauch in der Industrie war seinerzeit noch hoch. Zugleich begannen die Energieunternehmen auf Anweisung der Regierungen in der EU Gas für den Winter zu horten, und zwar buchstäblich zu jedem Preis. Ferner gab es massive Probleme bei der Stromerzeugung mit Atomkraft in Frankreich. Auch Kohlekraftwerke konnten nicht hochgefahren werden – wegen logistischer Probleme beim Brennstoff. Beides hatte zur Folge, dass im EU-Verbund mehr elektrische Energie in teuren Gaskraftwerken produziert werden musste.
Was hat die Verbilligungen ausgelöst?
Erstens hat die Industrie ihren Verbrauch massiv gedrosselt, indem auf andere Energiequellen wie Heizöl umgestellt wurde. Auch wurde die Produktion vielfach gedrosselt. Zudem sind die Gasspeicher inzwischen gut gefüllt – hierzulande aktuell zu fast 98 Prozent. In der EU sind es 94 Prozent. Aus diesem Grund wird weniger Gas zum Einspeichern gekauft. Die logistischen Probleme für Kohlekraftwerke haben sich entspannt. Und das Angebot an verflüssigtem Erdgas (LNG), das per Schiff importiert wird, hat sich deutlich erhöht. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die ungewöhnlich hohen Temperaturen, die es Verbrauchern leicht machen, die Heizungen abgeschaltet zu lassen.
Lässt sich die neue Sparsamkeit quantifizieren?
Nach Angaben der Bundesnetzagentur lag der tägliche Gesamtgasverbrauch in der vorvergangenen Woche hierzulande mit 1759 Gigawattstunden um 27 Prozent unter dem Durchschnittswert der Jahre 2018 bis 2021. Dieser Trend dürfte sich fortgesetzt haben.
Hat sich der geringere Verbrauch auf die Gaspreise für Verbraucher ausgewirkt?
Ja, aber dies ist vor allem bei Verträgen für Neukunden zu erkennen. Ein Sprecher der Preisvergleichsportals Verivox sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Aktuell beobachten wir tatsächlich einen Rückgang der Gasneukundenpreise. Lag der durchschnittliche Preis für bei Verivox vermittelte Gastarife Anfang September sogar bei fast 40 Cent die Kilowattstunde, sind es aktuell nur noch 22,2 Cent.“ Zum Vergleich: Vor einem Jahr waren noch 7 bis 9 Cent üblich.
Worauf müssen sich Kunden mit bestehenden Lieferverträgen einstellen?
Bestands- und Grundversorgungskunden können nicht mit sinkenden Preisen rechnen. Die Ursache: „Kurzfristige Schwankungen bei den Großhandelspreisen spüren Verbraucher meist gar nicht, und sie kommen – wenn überhaupt – erst zeitverzögert an“, so der Verivox-Sprecher. Versorger würden Gas langfristig einkaufen – teilweise Jahre und Monate im Voraus. „Erst wenn der Trend sinkender Großhandelspreise sich weiter verstetigt, dürfen Kunden auf Entspannung hoffen.“
„Kurzfristige Schwankungen bei den Großhandelspreisen spüren Verbraucher meist gar nicht, und sie kommen – wenn überhaupt – erst zeitverzögert an.“
Sprecher der Preisvergleichsportals Verivox
Wie ist die Entwicklung für die nächsten Monate einzuschätzen?
Aktuell liege das Preisniveau immer noch deutlich über dem langjährigen Mittel, betont der Verivox-Sprecher. Zudem würden die Entgelte für die Nutzung der Gasnetze in 2023 um rund 20 Prozent steigen. Er fügt hinzu: „Wir erwarten für die kommenden Monate daher steigende Preise. So haben wir allein für November und Dezember rund 300 Preiserhöhungen örtlicher Gasversorger erfasst – um rund 25 Prozent. Für eine Familie mit einem Gasverbrauch von 20.000 Kilowattstunden sind das Mehrkosten von rund 1100 Euro im Jahr.“
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Wie ist die Lage im Großhandel?
Die TTF-Notierungen zeigen, dass auch die Großhändler wieder mit steigenden Preisen kalkulieren. Für die Lieferung im Dezember wurden am Dienstagnachmittag 135 Euro pro Megawattstunde verlangt. Fürs erste Quartal im neuen Jahr waren es 143 Euro. Nach Einschätzung von Experten hängt dies zuallererst damit zusammen, dass mit sinkenden Temperaturen von Dezember bis März der Verbrauch deutlich steigen wird. Bei extremer Kälte können es bis zu 6000 Gigawattstunden pro Tag werden.
Angesichts eines maximal möglichen Imports von knapp 3500 Gigawattstunden täglich müssten dann die im Sommer sehr teuer eingekauften Reserven angezapft werden, was den Preis in die Höhe treiben würde. Ferner wird damit gerechnet, dass Gas bei kalten Temperaturen auch wieder verstärkt zur Stromerzeugung eingesetzt werden muss, da in Frankreich vielfach mit elektrischer Energie geheizt wird und in den nächsten Monaten viele Atomkraftwerke aus Sicherheitsgründen weiter abgeschaltet bleiben müssen.
Worauf müssen sich Verbraucher im Winter 20223/24 einstellen?
Die Energiewirtschaft rechnet mit einem weiterhin knappen Angebot. Das lässt sich am TTF-Terminmarkt ablesen: Für die Lieferung in den Sommermonaten mit extrem niedrigem Verbrauch wird derzeit Gas für 140 Euro pro Megawattstunde verkauft. Im langjährigen Mittel waren es zehn bis 25 Euro. Der Grund für die hohen Preise ist, dass alle Marktakteure damit rechnen, dass kein russisches Gas mehr kommt.
Wie können Engpässe dauerhaft überwunden werden?
Eine Gruppe aus Energiewissenschaftlern, die am von der Bundesregierung geförderten Ariadne-Projekt mitarbeiten, geht davon aus, dass für Deutschland in den nächsten Jahren 600 Terawattstunden Erdgas aus einheimischer Förderung und „verlässlichen Lieferländern“ realistisch sind. Das sind etwa 30 Prozent weniger im Vergleich zum Vorkrisenniveau. Um dieses Maß müsse auch der Verbrauch gedrückt werden, um „Energiesouveränität“ zu erlangen. Für die Ariadne-Forscher ist dies möglich, wenn erneuerbare Energien ausgebaut, Kohlekraftwerke kurzfristig verstärkt eingesetzt, Gebäude energetisch saniert, im großen Stil mit Wärmepumpen ausgestattet oder mit Nah- und Fernwärme versorgt werden. Für die Industrie sei es notwendig, den Import von energieintensiven Vorprodukten wie Ammoniak für die Düngerproduktion auszubauen.