Steht Russlands Wirtschaft vor dem Kollaps?
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Menschen stehen in Moskau Schlange, um US-Dollar an einem Tinkoff-Geldautomaten in einem Supermarkt abzuheben.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Berlin. Das Lob kam von höchster Stelle. Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher persönlich griff zur Feder, als der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft 2012 sein 60-jähriges Bestehen feierte. Genscher schrieb über geschäftliche Erfolge, aber auch über die Wirtschaft als „stabilisierendes Element“ und „Pfeiler“ der deutschen Außenpolitik.
Mehr Anerkennung geht kaum.
In diesem Jahr wird der Ost-Ausschuss 70, zum Feiern aber ist niemandem zumute. Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin all die mit Russland verbundenen Geschäftshoffnungen deutscher Unternehmer zerstört und die Politik ihrer Vision beraubt, dass wirtschaftliche Verflechtung zu mehr Sicherheit führen könnte.
Nach „Wandel durch Handel“ scheint es für deutsche und westliche Unternehmen in Russland derzeit nur noch eine Maxime zu geben: „möglichst schnell raus.“ Seit Kriegsausbruch hat ein regelrechter Exodus der Wirtschaft eingesetzt. Siemens, BASF, Mercedes, BMW, Volkswagen, SAP – die Liste der Dax-Konzerne, die keine neuen Aufträge mehr annehmen, keine Waren mehr an Russland liefern oder sogar ihre Produktion in dem Land ausgesetzt haben, wird jeden Tag länger.
Auch international suchen viele Firmen das Weite: Ikea kauft und verkauft keine Möbel mehr in Russland, Apple keine Handys, McDonald´s keine Burger.
Empörung und handfeste geschäftliche Interessen
„Innerhalb weniger Wochen werden Geschäftsbeziehungen zerstört, die über Jahrzehnte aufgebaut worden sind“, sagt ein Manager, der nicht genannt werden möchte. Er halte die harte Linie zwar für richtig, aber vielen seien die Folgen noch gar nicht klar, sagt der Mann. Siemens etwa ist seit 170 Jahren in Russland aktiv, BASF seit 145 Jahren.
Es sind nicht nur die Empörung über Putins Krieg und die Sorge um das eigene Renommee, die die Unternehmen zum Rückzug treiben. Es sind auch handfeste geschäftliche Interessen, etwa die Sorge, zum Ziel von Sanktionen durch die USA zu werden.
Russland ist für die meisten westlichen Unternehmen ein Markt mit überschaubarer Bedeutung. Die Zahl deutscher Firmen im Land hat sich seit der Annexion der Krim von damals über 6000 auf heute noch rund 3650 verringert.
Siemens zum Beispiel erzielt nur etwa ein Prozent des weltweiten Umsatzes in Russland. Natürlich schmerzt es, wenn das wegbricht. Aber im Vergleich zu drohenden Konsequenzen im Handel ist ein Ende des Russland-Engagements für die meisten Firmen das deutlich kleinere Übel.
Der Rubel befindet sich seit Beginn des Krieges in freiem Fall
Zumal niemand weiß, wie schlimm es noch kommt. Die Finanzsanktionen jedenfalls scheinen ihre Wirkung inzwischen zu entfalten. Der Rubel befindet sich seit Beginn des Krieges im freien Fall, die Zentralbank musste den Leitzins von 9,5 auf 20 Prozent anheben, der Handel an der Moskauer Börse ist seit Tagen ausgesetzt.
Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass Russland trotz gewaltiger Bargeldreserven von 600 Milliarden Dollar die Zahlungsunfähigkeit droht. Die Ratingagentur Fitch stufte Russlands Kreditwürdigkeit am Dienstag von „B“ auf „C“ ab. Die Note bedeutet, dass ein Zahlungsausfall unmittelbar bevorstehen dürfte.
Seit Präsident Wladimir Putin am vergangenen Wochenende einen Präsidialerlass unterzeichnet hatte, der es Russland erlauben könnte, Gläubiger „feindlicher“ Länder in Rubel statt in Fremdwährung zu bezahlen, zweifeln die Analysten an der Zahlungsbereitschaft Moskaus.
Aber auch die Zweifel an der Zahlungsfähigkeit wachsen. Offenbar kommt die russische Zentralbank wegen der Sanktionen im Finanzbereich nicht mehr an die Währungsreserven heran. Moskaus Währungshüter sahen sich deshalb am Mittwoch genötigt, massive Einschränkungen für den Devisenhandel zu erlassen. So dürfen russische Banken kein ausländisches Bargeld mehr an Bürger verkaufen. Russen, die ein Devisenkonto in ausländischer Währung besitzen, dürfen nur noch Bargeld bis zu einem Betrag von 10.000 Dollar abheben kann.
Sollte es zu einer russischen Staatspleite kommen, könnte das Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten nach sich ziehen. „Das dürfte auch die Motivation Russlands in einem Wirtschaftskrieg sein“, sagt Klaus-Jürgen Gern vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Er gehe aber davon aus, dass die Europäische Zentralbank willens und in der Lage wäre, mit gezielten Eingriffen die Folgen abzudämpfen, so der Ökonom weiter.
Die wirtschaftlichen Einschränkungen träfen Russland empfindlich, trotzdem könne das Land lange durchhalten, vermutet Gern. Unvermeidlich ist aus seiner Sicht allerdings, dass das russische Volk unter den Folgen des Wirtschaftskrieges leiden wird. Russland werde auf absehbare Zeit mit einer erhöhten Inflation zu kämpfen haben, so der Experte. „Die Russinnen und Russen werden dadurch Wohlstandseinbußen hinnehmen müssen.“