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Wissen statt wegschauen: Expertin zu sexuellem Missbrauch

Experten kritisieren, viele Bürger wüssten zu wenig und schauten deshalb nicht hin.

Experten kritisieren, viele Bürger wüssten zu wenig und schauten deshalb nicht hin.

Osnabrück. Schwere Missbrauchsfälle wie jüngst in Münster oder im vergangenen Jahr in Lügde rütteln Politik und Bürger immer wieder auf. Die Rufe nach schärferen Gesetzen für die Täter kommen dann fast reflexartig. Doch was eigentlich kann die Gesellschaft tun, damit es erst gar nicht so weit kommt? Wie kann sie Kinder schützen und wie können Kinder sich selbst schützen vor sexualisierter Gewalt und Übergriffen - von fremden Erwachsenen, dem Onkel, der Mutter, dem Fußballtrainer? Die Theaterpädagogische Werkstatt in Osnabrück hat darauf eine verblüffend einfache Antwort: Aufklärung.

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Seit mehr als 20 Jahren schickt Direktorin Anna Pallas bundesweit Schauspielpaare mit Stücken wie "Mein Körper gehört mir", "Die große Neintonne" und "Ein Tritt ins Glück" in Kitas und Schulen. Sie sollen Kindern und Jugendlichen die Gefahren vor Augen führen und ihnen Auswege und Hilfen aufzeigen. "Alle Menschen haben das Recht, zu wissen, was sexuelle Gewalt ist. Denn Wissen macht stark", sagt Pallas im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst epd. Sie kritisiert, viele Bürger wüssten zu wenig und schauten deshalb nicht hin.

Kinder müssen das Neinsagen lernen

Frau Pallas, Sie haben in ihrer Theaterpädagogischen Werkstatt seit Jahrzehnten Programme zur Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindern. Worum geht es da genau?

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Pallas: Wir machen Kinder stark. Sie sollen lernen, sich körperlich und mental zu behaupten. Wir machen ihnen klar, dass sie Nein sagen dürfen und dass sie auch etwas anders empfinden dürfen, als Erwachsene ihnen einreden. Ein Beispiel: Der Erwachsene sagt: "Zieh dir die Strumpfhose an!" Das Kind jammert: "Die kratzt aber!" Der Erwachsene entgegnet: "Die kratzt nicht!" So beginnt das bei uns mit dem Präventionsprogramm "Die große Neintonne" für Kitakinder sowie Erst- und Zweitklässler. Es geht um Aufklärung darüber, was ein Kind dann tun kann, wenn es so etwas erlebt.

Und was ist das? Was können die betroffenen Kinder tun?

Das wiederholen wir mantraartig in all unseren Programmen: „Wenn es Dir nicht gutgeht, such Dir eine Person und erzähl ihr, was Dich belastet.“ Und wir üben das auch. Die Kinder sollen merken, wie sich das anfühlt, mit einer Person über etwas so Schambehaftetes und Schreckliches zu sprechen. Im Stück „Mein Körper gehört mir“ für Kinder der dritten und vierten Klassen werden Szenen verschiedener Härtegrade gespielt - vom ersten leichten Nein-Gefühl bis zum sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie durch den jugendlichen Bruder des Kindes. Wir spielen Szenen, die wir dann abbrechen, um mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Dabei geht es immer um die Frage: „Wie würdet ihr in dieser Situation reagieren, was würdet Ihr tun?“

Kinder müssen lernen, ihrem eigenen Gefühl zu vertrauen

Was ist genau das Ziel der Programme, was wollen Sie erreichen?

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Unser Ziel ist zunächst einmal Aufklärung. Alle Menschen, auch Kinder haben das Recht zu wissen, was sexuelle Gewalt ist. Und sie sollen wissen, was sie tun können, wenn sie ein Nein-Gefühl haben. Denn Wissen macht stark. Zudem bestärken wir sie darin, ihrem eigenen Gefühl zu vertrauen. "Dein Gefühl ist echt. Dein Gefühl hat immer recht." Das machen wir permanent und immer wieder. Sie sollen mutig genug sein, möglichst früh etwas dagegen zu setzen.

Und das funktioniert?

Ja, das funktioniert. Was glauben Sie, wie oft wir schon Reaktionen von Polizisten und Polizistinnen hatten, die sagen: „Wir haben hier gerade ein Kind, das ist zu uns gekommen, weil es euch gesehen hat. Das verwendet exakt die Wörter, die ihr ihm beigebracht habt.“ Auch von Eltern und Kindern bekommen wir viele positive Reaktionen. Wir haben tausende von Kindermails mit dem Tenor: „Es tut mir gut, dass Ihr da wart.“ Und es sind schlimmste Missbrauchsfälle aufgedeckt worden, weil wir in der Schule waren und dem Kind erklärt haben, was sexuelle Gewalt ist.

Die meisten Menschen wissen zu wenig über sexuelle Gewalt

Bei Missbrauchsfällen wie in Münster oder auch in Lügde wird immer wieder auch Kritik an Jugendämtern und Polizei laut? Teilen sie diese Kritik?

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Die Behörden sind nicht ausreichend ausgestattet, um dem Problem zu begegnen. Dafür müssten ganz neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Mitarbeiter der Jugendämter sollten nicht wie Missbrauchsfahnder oder Spürhunde in die Familien gehen. Die haben eigentlich einen ganz anderen Auftrag. Die sollen Familien in Not unterstützen. Ich finde, jede Kommune sollte sich einen Missbrauchsbeauftragten leisten. Und jedes Bundesland sollte sich einen Missbrauchsbeauftragten leisten. Denn sexueller Missbrauch ist so ein unglaublich großes Thema. Das geht los beim Grooming (Anbahnen, Vorbereiten) und hört beim klassischen sexuellen Übergriff noch lange nicht auf. Das Ganze ist durch die Digitalisierung hochprofessionell geworden. Der Täter von Münster hat damit ja offenbar seinen Lebensunterhalt verdient.

Ist die Gesellschaft insgesamt ausreichend sensibilisiert für das Thema sexueller Missbrauch?

Nein. Die meisten Menschen haben keine Ahnung von sexueller Gewalt. In ihren Köpfen existiert eine Wahrnehmungsschranke, die bedeutet: „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Und wenn es für mich unvorstellbar ist, dass in meiner Nachbarschaft so etwas stattfindet, dann sehe ich das natürlich auch nicht. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir darüber wesentlich mehr sprechen. Ein Missbrauchsbeauftragter könnte eine solche Diskussion in Gang bringen. Die Theaterpädagogische Werkstatt bietet an jedem Ort, an dem wir für die Kinder spielen, Präsentationsveranstaltungen an. Aber die Aufklärung, die wir und die Beratungsstellen machen, reicht nicht aus.

Sexuelle Gewalt nicht zum Tabuthema machen

Was wäre noch nötig?

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Das Thema ist gerade im ländlichen Bereich noch sehr tabuisiert. Wenn wir dort eine Präsentationsveranstaltung machen, fühlen sich manche Eltern nicht mutig genug zu kommen. Der Nachbar könnte ja denken, man selbst hätte ein Problem mit diesem Thema. Die Aufklärung müsste so niedrigschwellig sein, dass es jeder versteht. Aus den Medien ist aber häufig nur etwas über den Täter und den Tathergang zu erfahren - noch dazu in einer Behördensprache. Wir hören viel zu selten etwas von den Eltern der betroffenen Kinder. Ein solches Verbrechen führt zu massiven Störungen innerhalb des gesamten Familiensystem. Das ist, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Und der Krater bleibt. Und dann haben wir noch nicht das Opfer selbst gesehen. Ich kenne viele Opfer. Ich weiß, dass einige das ganz gut verarbeiten können. Aber ich weiß auch von Menschen, die sich das Leben genommen haben.

Was können wir als einzelne tun?

Wir sollten uns nicht nur entrüsten, sondern uns über sexuelle Gewalt informieren, damit wir unsere Augen aufhalten können. Wir sollten wissen, an wen wir uns zu wenden haben, wenn wir uns nicht trauen, Menschen direkt anzusprechen. Wir sollten uns an die Beratungsstellen wenden - auch wenn wir Angst haben, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen. Jeder kann dort anonym mit Experten detailliert die Situation überdenken. Jeder in unserer Gesellschaft sollte zumindest die Nummer des bundesweiten Hilfetelefons für Erwachsene und der „Nummer gegen Kummer“ für Kinder kennen.

RND/epd

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